Expertenstandard Demenz: Beziehung gestalten

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Lesedauer: 5 Minuten

Sie gehen den Gang entlang. Atemzüge, Stimmen, Tellerklirren. Sie sehen Frau Müller an einem Tisch sitzen, die heute misstrauisch auf ihr Essen schaut. Einen Moment später singt sie überraschend ein Lied aus ihrer Jugend.

Demenz ist wechselhaft. Und genau hier setzt der Expertenstandard Demenz an: Sie geben Halt, deuten Signale, gestalten Nähe. Dieser Beitrag zeigt, wie Sie den Expertenstandard mit Verstehenshypothesen, person-zentrierter Haltung und Teamroutinen so ausgestalten, dass Menschen sich gesehen und sicher fühlen.

Expertenstandard Demenz verstehen: Ihr Kompass bei der Pflege

Es zählt der Blick auf die Person, nicht auf die Diagnose. Eine person-zentrierte Haltung bedeutet, den Menschen mit Demenz in gleichwertiger Partnerschaft zu sehen, seine subjektive Realität ernst zu nehmen und eigene Entscheidungen so weit wie möglich zuzulassen.

Damit aus Haltung Handeln wird, braucht es eine Verstehenshypothese, also eine begründete Annahme darüber, was ein Verhalten bedeuten könnte. Sie stützt sich auf die Biografie, die Situation und nonverbale Signale der Person mit Demenz. Im Team der Pflegeeinrichtung entsteht daraus ein gemeinsamer Deutungsansatz, der im Alltag erprobt und bei Bedarf angepasst wird. So wird ein überraschender demenzieller Moment für alle bearbeitbar.

Wenn die Worte einer Person mit Demenz verletzen oder Angst ausdrücken, hilft Validation: Aussagen gelten lassen, Gefühle anerkennen, Sicherheit geben, erst dann korrigieren. Dieser Umgang öffnet Türen, die mit Aufklärung allein verschlossen bleiben. Aus Anerkennung wächst Vertrauen, und aus Vertrauen wächst Gestaltungsspielraum als Basis guter Demenzpflege.

Ein Beispiel aus dem Speisesaal: Frau Müller sagt: „Der Koch hat das Essen vergiftet.“ Ihr Widerspruch würde die Situation verhärten; eine ruhige Antwort wie „Das klingt beunruhigend. Erzählen Sie mir mehr“ öffnet sie hingegen. In der Team-Übergabe entsteht die Verstehenshypothese: „Essen“ bedeutet für Frau Müller „Sicherheit“. Daraus folgen neue Angebote, etwa ein kurzes Gespräch mit dem Küchenpersonal, ein vertrautes Rezept, ein ruhiger Sitzplatz. Abends steht in der Dokumentation: Frau Müller blieb länger am Tisch sitzen, probierte das Essen, suchte Kontakt.

Denken Sie den Expertenstandard Demenz wie ein Haus: Struktur ist das Fundament (Zeitfenster, Bezugspflege, Supervision). Prozess ist der Bau (Hypothese, Planung, Anleitung, Anpassung). Ergebnis ist das bewohnbare Zuhause (Geborgenheit, Teilhabe, Ruhe).

Bezugspflege hält diesen Rahmen zusammen, denn kontinuierliche Ansprechpersonen kennen die feinen Signale, verstehen biografische Anker schneller und geben Halt, falls die Situation kippt. Für Frau Müller bedeutet sie vertraute Gesichter, die ihren Ton kennen und ihren Takt respektieren. Den Mitarbeitenden ermöglicht dieser Rahmen, zügig anschlussfähig zu sein, vom Frühdienst bis zur Nacht.

Planen & koordinieren: Vom Deuten ins Tun

Aus der Verstehenshypothese wird Praxis: Zuständigkeiten klären, Informationen sichtbar machen, Wirkungen beobachten und den Maßnahmenplan anpassen – das sind die anschließenden Aufgaben. Beziehungsgestaltung gelingt, wenn jede Berufsgruppe weiß, warum etwas passiert, und wie sie dazu beiträgt.

Pflegefachpersonen halten den roten Faden: Sie prüfen die Verstehenshypothese im Kontakt mit der betreffenden Person, formulieren klare Maßnahmen und dokumentieren kurz, was sich verändert hat. Ein Satz im Übergabeprotokoll reicht: „Frau Müller blieb länger am Tisch, ein vertrautes Rezept half ihr zu essen, ein ruhiger Platz senkte die Anspannung.“ So wandert Beziehungsgestaltung aus dem Kopf in den Dienstplan.

Pflegehilfspersonen tragen das Konzept in die kleinen Momente. Sie sprechen ruhig und klar, beachten nonverbale Signale und geben Rückmeldung. Ein freundlicher Blick, ein dazu gerückter Stuhl, der Lieblingsduft: Solche Details können .

Leitungskräfte übersetzen das Vorgehen in Struktur, indem sie Zeitfenster schaffen, Bezugspflege sicherstellen und Reizschutz ermöglichen. Kleine Weichenstellungen wirken, etwa die Küchenzeiten an Essrhythmen anzupassen, Ruhezonen zu markieren, die Übergabe im Team um den Stichpunkt „Wirkung & Nächster Schritt“ zu ergänzen.

Betreuung, Hauswirtschaft und Küche lassen die Verstehenshypothese im Alltag Gestalt annehmen. Wenn „Essen“ Sicherheit bedeutet, wird gemeinsam probiert. Wenn Geräusche Stress auslösen, bleibt die Spülmaschine während des Singkreises ausgeschaltet.

Angehörige sind Mitgestaltende. Ein kurzes Telefonat, Familienrezepte, Biografie-Details: Rückmeldungen von zu Hause schärfen die Verstehenshypothese für morgen.

Koordination bedeutet, wenige, klar benannte Schritte zu gehen, nicht alles auf einmal zu machen. Für den Alltag bewährt sich eine kurze Kontakt-Routine: vor dem Kontakt ein Blick in die Biografie und letzte Notiz; im Kontakt klare Sätze, freundlicher Ton, angepasstes Tempo; danach eine Dokumentation zu Stimmung, Interaktion, Eingebundensein und Sicherheit. Diese knappe Notiz hält das Team beim Schichtwechsel anschlussfähig. Herzstück des Expertenstandards bleibt jedoch die Verstehenshypothese, also die begründete Deutung eines Verhaltens, die im Team entwickelt, im Alltag geprüft und bei Bedarf angepasst wird.

 Manchmal kippt eine Situation trotz guter Planung. Dann zählt Anpassungsfähigkeit, etwa in Form von Reizarmut, eines Wechsels der Ansprechperson, eines anderen Rituals. Aus dem Deuten wird Tun, aus dem Tun eine Wirkung. Wenn Frau Müller nach dem Gespräch mit der Küche wieder Kontakt sucht, stimmt die Richtung. Wirkt sie am nächsten Tag erneut misstrauisch, ist das ein Hinweis. Die Verstehenshypothese wird nachbereitet und der Plan verfeinert, so dass Beziehung möglich ist.

Beziehung im Alltag gestalten

Beziehung entsteht im Alltag, beim Waschen, Essen, Gehen, Warten. Der Expertenstandard Demenz ruft hier zur Zuwendung und Präsenz auf. Die Versorgung mit Individuellen Hilfsmitteln wie Brille oder Hörgerät gehören selbstverständlich dazu. Zwischen Realitätsorientierung und dem Einlassen auf subjektive Realitäten braucht es Fingerspitzengefühl; heute hilft ein Anker in der Gegenwart, morgen das vertraute Lied von früher.

Die Angebotspalette für Personen mit Demenz ist vielfältig. Sie umfasst Erinnerungspflege mit Fotoalben oder Gespräche über frühere Berufe; Musik und Tanz aus der Jugend; Geschichten und kleine Rollenspiele; Puppen oder Stofftiere als Gesprächsanlass; Gartenarbeit mit Kräuterdüften und Gießkanne; Technik für einen virtuellen Museumsbesuch. Entscheidend ist die Passung: Reize werden person- und phasengerecht dosiert. Hilfreiche Reize dürfen bleiben, überfordernde Reize werden reduziert.

  Beziehungsgestaltung benötigt entsprechende Rahmenbedingungen, wie geschützte Bereiche, Reizschutz mit Lautstärke-Regulierung und Orientierungshilfen, zeitliche Ressourcen für Rituale und Tagesrhythmen, eine Bezugspflege mit Team-Supervisionen für Reflexion.

Es gibt Momente in der Demenzpflege, die hart sind.   helfen:

  1. Reize reduzieren – Fernseher aus, einen ruhigen Ort schaffen.
  2. Tempo senken – atmen, pausieren, neu beginnen.
  3. Nähe ohne Druck – da sein, warten, wieder anbieten.

Eine kurze Dokumentation reicht, damit das Team  anschließen kann.

Und es gibt Momente, die schön sind: Ein Lächeln, das bleibt; ein Blick, der Kontakt sucht; ein Mitsingen, das den Raum füllt; ein Kopf, der sich anlehnt; ein ruhiger Schlaf nach einem vertrauten Ritual. Auch diese goldenen Momente gehören dokumentiert, nicht als Zierde, sondern als Ergebnisspur gelingender Beziehungsgestaltung im Rahmen des Expertenstandards Demenz. Genau hier wird Wirkung sichtbar.

Expertenstandard Demenz und Evaluation: Vier Kriterien, die tragen

Im Expertenstandard Demenz zählt Ihr fachlicher Blick. Die Bewertung ist kriteriengeleitet und offen für Team, Angehörige und, wo möglich, für die Stimme der Person mit Demenz.

Sie orientieren sich an vier Feldern:

  • Stimmung/Affekt (Anspannung oder Entspannung),
  • Beziehung/Interaktion (Kontaktaufnahme, Reaktion),
  • Betätigung/Eingebundensein (Beteiligung oder Rückzug)
  • Sicherheit/Geborgenheit (ruhiger Schlaf, Orientierung, Interesse).

Die kurze Dokumentation hält das Team anschlussfähig:

Pflegefachpersonen passen die Verstehenshypothese den dokumentierten Beobachtungen an. Pflegehilfspersonen spiegeln Feinzeichen der Person mit Demenz und notieren sie. Mitarbeitende der Küche und Hauswirtschaft gestalten wirksame Rituale in ihrem Bereich. Angehörige ergänzen Informationen zu Biografie und Wirkungen im Besuchskontakt. Äußert die Person mit Demenz, was ihr gutgetan hat, fließt das selbstbestimmend ein. Auf dieser Basis wird der Maßnahmenplan zeitnah und transparent angepasst.

So entsteht eine Wirkungsschleife aus beobachten, deuten, erproben, notieren, nachsteuern.

Wie kann Relias Ihnen dabei helfen, die Beziehungsgestaltung bei Demenz sicher im Team umzusetzen?

Unser E-Learning-Kurs „Expertenstandard – Beziehungsgestaltung bei Demenz“ führt Sie praxisnah durch alle Handlungsebenen, mit Fallvignetten, Interaktionsbeispielen, Wissenschecks und Aufgaben. Nach Kursabschluss können Sie:

  • individuelle Unterstützungsbedarfe bei der Beziehungsgestaltung von Menschen mit Demenz erkennen.
  • erklären, weshalb eine person-zentrierte Haltung die Voraussetzung für eine gelingende Beziehungsgestaltung ist.
  • die strukturellen Anforderungen an Pflegeeinrichtungen und Pflegende erkennen, um Menschen mit Demenz in der Beziehungsgestaltung zu unterstützen.
  • eine Verstehenshypothese
  • erklären, weshalb Angehörige und andere Teammitglieder in den Pflegeprozess einbezogen werden müssen und wie dies gelingen kann.
  • Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung mit Menschen mit Demenz benennen.
  • wissen, welche Punkte Sie in die Evaluation der Beziehungsgestaltung von Menschen mit Demenz einbeziehen müssen.

Für wen ist der Kurs geeignet?

  • Pflegefachpersonen und Hilfspersonen in Pflegeeinrichtungen (Demenzbereich)
  • Leitungen, Qualitätsbeauftragte, Praxisanleitende
  • Mitarbeitende aus Betreuung/Hauswirtschaft/Küche, die Beziehung mitgestalten

Bringen Sie den Expertenstandard Demenz in Ihr Team. So verwandeln Sie Unsicherheit in Handlungsfähigkeit und machen Wirksamkeit sichtbar.

Sie möchten mehr zu unserem Kurs-Angebot erfahren? Eine Übersicht unserer zahlreichen E-Learning-Kurse finden Sie hier. 

Auszug aus dem Relias E-Learning-Kurs „Expertenstandard – Beziehungsgestaltung bei Demenz“

Quellenverzeichnis

Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) (Hrsg.) (2018): Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenzochschule Osnabrück

Relias Learning GmbH (Hrsg.) (2018): Expertenstandard – Kurs Beziehungsgestaltung bei Demenz, Berlin

ist Diplom-Pädagogin mit dem Schwerpunkt Weiterbildung und als Fachautorin sowie SME-Writerin bei der Relias Learning GmbH tätig. Sie verfügt über langjährige Erfahrung als medizinische Fachangestellte sowie in der Kinder- und Jugendhilfe. Als Bildungsreferentin entwickelte sie ein Curriculum und digitale Lernkurse für sozialpädagogisches Personal im Arbeitsfeld Hilfen zur Erziehung. Heute liegt ihr pädagogischer Schwerpunkt in der didaktischen Konzeption und im Texten digitaler Lernangebote für Gesundheits- und Sozialberufe.
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