Die Drehbuchschreiber von „Tatort“ und „Polizeiruf -110“ „Nachtruf“ beleuchten oft Themen, die gesellschaftlich eine Rolle spielen. So nimmt Hanns von Meuffels gespielt von Matthias Brandt im „Nachtruf“ vom 8.5.2017 in der ARD die Ermittlungen auf, die ihn in ein Altenheim mit überforderten Pflegern und betreuungsintensiven Patienten führen. Ein Horror, was sich dort abspielt. Auch das Thema Demenz wird gestreift, gezeigt wird die Hilflosigkeit, mit der Angehörige oft konfrontiert sind, wenn ein geliebter Mensch ins Vergessen entgleitet.
Für einen respektvollen Umgang mit dementen Menschen
Ein wunderbares Plädoyer für die Würde von Demenzkranken hält Michael Schmieder in seinem Buch „Dement, aber nicht bescheuert“. Der Autor und ambitionierte Pfleger Michael Schmieder mit Masterabschluss „Ethik“ hat es sich zusammen mit der Coautorin Uschi Entenmann zur Aufgabe gemacht, zu informieren und aufzuklären. Er leitet das Heim Sonnenweid in der Schweiz seit 1985. Es gilt als eine der besten Pflegeeinrichtungen für Demenzkranke weltweit. Seine These: Wenn wir den Kranken mit Respekt begegnen, so rauben wir ihnen ihre Würde nicht. Eine Würde, die jeder von uns behalten will, sollten wir die Krankheit je bekommen.
Michael Schmieder übernahm 1985 das Haus Sonnweid in der Schweiz, und schreibt über die Veränderungen, die er im Laufe der Zeit dort durchgesetzt hat und zeigt mit Fallbeispiele. Hier greift das Individualkonzept, und die Lösungsstrategien werden oft individuell erarbeitet und umgesetzt. Immer unter ethischen Gesichtspunkten, menschlich und an den Bewohnern orientiert, ohne dabei die Bedürfnisse der Angestellten aus dem Auge zu verlieren. Wäre das nicht auch bei uns möglich, nicht nur in der Schweiz? Manchmal klingt eine leichte Resignation durch, dass manches in Deutschland nicht oder nur schlecht umsetzbar ist. Das dürfte zum Teil an den Richtlinien liegen. Aber was sind Richtlinien wert, die nicht an den Menschen orientiert sind?
Aus der Praxis – und es geht doch!
Es ist spannend zu verfolgen, wie Michael Schmieder auf seine unkonventionellen Ideen im Umgang mit demenzkranken Bewohnern seines Pflegeheims kam. So richtet er zum Beispiel WG-artige Wohneinheiten mit Demenzkranken ein, die noch ungefähr gleich viel können, nachdem er beobachtet hat, wie schwierig es ist, wenn Menschen mit unterschiedlichen ‚Verfallsstufen‘ gezwungen werden zusammen zu leben. Ausgangspunkt war die Erfahrung, dass demente Menschen ruhiger sind, wenn sie unter Menschen sind.
Sehr bewegende und auch Mut machende Geschichten, Anekdoten, Fallbeispiele, Erfahrungen und Fortschritte beschreibt das Autorenteam, Geschichten, die aus dem wahren Leben stammen. Sie stellen nicht nur den Umgang mit dem Vergessen und das Leben mit der Krankheit und dem Verfall in einem Pflegeheim dar, sondern lassen sich auch auf den Alltag daheim adaptieren. Informativ und bewegend, so lesen sich diese Geschichten, und oft laden sie zum Schmunzeln ein, weil hier Menschliches so sympathisch dargestellt ist, wenn es zum Beispiel um die Eigenheiten von Demenzkranken Menschen geht.
Aus der Sicht der Betroffenen
Was ist besonders? Michael Schmieder kommt aus der Praxis: Er hat beobachtet, worüber er schreibt. Er nimmt die Demenzkranken und ihre Bedürfnisse ernst und behandelt jeden Kranken als Individuum. Er ändert die Haltung: Nicht nur das Pflegepersonal bestimmt, wie es am praktischsten und wenigsten arbeitsintensiv wäre, den Patienten unterzubringen, sondern die Dementen haben ein weit gehendes Anrecht auf die Bedingungen, unter denen sie gut leben können. Ohne es verharmlosen zu wollen und auch wenn das an der Realität in den meisten Pflegeheimen vorbei zu gehen scheint: Was ist so schlimm daran, wenn das bedeutet, dass eine Patientin zeitweise nur noch Torte isst? Wenn für einen Bewohner ein Matratzenlager auf dem Boden ausgelegt wird, weil er immer versuchte – bei erhöhtem Sturzrisiko – aus dem Bett zu klettern? Er fühlt sich eben nur auf dem Boden wohl! Wenn es den Patienten gut geht, so ist das in Ordnung. Zumindest im Heim Sonnenweid.
Ist Vergessen nur schlimm?
Warum, so wird die Frage aufgeworfen, wird die Demenz immer nur am Vergessen gemessen und warum wird versucht, diesem Vergessen mit allen Mitteln entgegenzustreben? Kann das Vergessen nicht auch ein paradiesischer Zustand sein? Wollen wir nicht manchmal auch vergessen was uns belastet und beklagen, dass wir nicht im Hier und Jetzt leben können? Mich hat beeindruckt, was Carsten mir erzählt. Carsten geht jede Woche in ein Pflegeheim und spielt den Gesellschafter für einen dementen Mann, Kurt. Carsten ist Schauspieler, hat einen anstrengenden Job, aber er sagt, es sei eine Bereicherung für ihn, Kurt zu besuchen. Hier kommt er zur Ruhe, auch wenn sein Klient Kurt ihn jedes Mal neu kennen lernt und sich nur noch vage erinnert. In seinen lichten Momenten erzählt Kurt, dass er sich „nicht mehr ärgere“; früher habe er sich immer sehr geärgert und sei sehr getrieben gewesen, so versteht es Carsten.
Die Haltung macht es
Die Haltung der Heimleitung und ihrer Belegschaft, demente Menschen nicht mit dem logischen Maßstab der ‚gesunden‘ Welt zu messen, ist entscheidend. Sie setzt sich intensiv mit der Vergangenheit eines Menschen auseinander. In einem ‚Fall‘ fanden die Angestellten heraus, dass der Bewohner deshalb nichts am Tisch isst, weil er aus einem streng katholischen Elternhaus kam, in dem vor dem Essen gebetet wurde; stellt sich das Pflegepersonal auf das Ritual ein und lässt beten, so ist plötzlich die Ernährung kein Problem mehr. Mit einer intelligenten Lösung nach Biografierecherche vereinfacht sich manchmal auch die tägliche Arbeit des Pflegepersonals.
Der Pflegeschlüssel in Deutschland – soll das so bleiben?
Natürlich ist unser Pflegeschlüssel hier in Deutschland ein Problem. Ja, stimmt. Offen, ehrlich und schonungslos erläutert der Autor hier die Fakten, den Ist-Zustand. Ein Umdenken und eine neue Sicht der Dinge sind aber möglich – hier im Heim gibt es ein vorbildhaftes Beispiel.
Das Plädoyer der beiden Autoren für ein menschenwürdiges Altern und ein Umdenken in der Pflege/Betreuung sollte uns allen ein Anliegen sein, denn auch wir bleiben nicht endlos jung und bei Kräften. Klar ist, dass eine Einrichtung wie Sonnweid teurer ist als andere Pflegeeinrichtungen. Es bleibt aber die Frage, was uns ein menschenwürdiges Altern wert ist bzw. wert sein sollte.
Dieses Buch zeigt am Beispiel der Demenzeinrichtung Sonnweid, wie ein menschenwürdiges Altern aussehen kann. Den Menschen so annehmen wie er ist und ihm mit Gefühl angemessen begegnen. Ein Vorbild, dem grundlegendes Umdenken folgen sollte – auch von Seiten der Politik.