Konzertierte Aktion Pflege: die Richtung stimmt
Gesundheitsminister Spahn hat für die Pflege viel angepackt. Doch es bleibt noch viel zu tun, um die Pflege für die Gesellschaft weiterzuentwickeln – eine Herkulesaufgabe.
Die Bundesregierung hatte mit der Konzertierten Aktion Pflege alle Akteure für anstehende Pflegereformen 2018 an einen Tisch gebracht.
Der Zwischenbericht vom November 2020 beweist, die richtige Richtung ist eingeschlagen, um die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern und den Pflegemangel zu bekämpfen.
Es wurden z.B. bessere Löhne und neue Stellen für Pflegefachpersonen finanziert. Das Pflegeberufegesetz modernisierte die Pflegeausbildung, die bisher getrennt in Altenpflege und Krankenpflege geregelt war und nun zu einer generalistischen Ausbildung zusammenfließt. Seit 2018 wurden Verordnungen erlassen und Maßnahmen für eine bessere Personalausstattung, für bessere Entlohnung und für eine schnellere Digitalisierung in der Pflege durchgeführt. Außerdem sollen Pflegefachpersonen mehr Entscheidungsbefugnisse in der Zusammenarbeit mit Ärzten und Ärztinnen erhalten.
Die Pflegeberufe sollen moderner und attraktiver werden. Doch vieles ist noch zu tun, wenn die Pflege den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen angepasst werden soll und nicht umgekehrt.
Die Vorschläge zu einer selbstbestimmten, bezahlbaren und sicheren Pflegeversorgung
Andreas Westerfellhaus´ Richtschnur für die Weiterentwicklung der Pflege und ihrer Pflegeversicherung ist die Selbstbestimmung des Menschen – Alle Maßnahmen müssen sich daran ausrichten. Denn mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsgesetz wurde 2017 die Erfassung einer Pflegebedürftigkeit erheblich erweitert. Seitdem gibt es für jeden eine Pflegedienstleistung – egal, ob er körperlich, kognitiv oder psychisch beeinträchtigt ist.
Westerfellhaus´ Forderungen für eine selbstbestimmte Pflege im Detail:
Die häusliche Pflege muss durchschaubarer werden und bezahlbar bleiben
Denn die meisten Menschen möchten so lange wie möglich zu Hause bleiben – 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt. Aber viele pflegende Angehörige sind mehrfach überfordert: Sie können sich zwar von der Arbeit begrenzt (bis zu 24 Monate) freistellen lassen, aber viele können sich die finanziellen Einbußen nicht leisten. Diese Familienleistung soll deshalb durch eine Geldleistung ergänzt werden.
Des Weiteren ist der Leistungskatalog der staatlichen Pflegeversicherung zu kleinteilig und bürokratisch gedacht und folgt nicht den Alltagsbedürfnissen der Familien zu Hause. Westerfellhaus fordert eine Neuordnung der Pflegeansprüche, die je nach Lebenssituation leicht abrufbar sind. Damit Leistungen nicht mehr verfallen, soll es Pflegebudgets geben, die zusätzlich Kurzzeit-, Verhinderungs- sowie Tages- und Nachtpflege finanzieren (Entlastungsbudget).
Dies würde auch die Situation junger Pflegebedürftiger verbessern. Denn diese Gruppe von 15 bis 60 Jahren hat sich zwischen 2009 und 2019 fast verdoppelt. Sie haben ähnliche Vorstellungen vom Leben wie gleichaltrige gesunde Menschen. Doch alternative Versorgungsstrukturen für sie fehlen.
Die rechtliche Grauzone in der 24-Stunden-Pflege beseitigen
Immer häufiger helfen sich Angehörige zu Hause mit „24-Stunden-Kräften“. Die Vermittlung übernehmen oft Agenturen mit uneinheitlichen Standards. Meist übernehmen osteuropäische Betreuungspersonen die Pflege und Betreuung. Hier gibt es rechtliche Risiken im Arbeitsrecht (Arbeitszeiten, soziale Absicherung, unklare Qualifikationen, mangelnde Integration), die Strafen nach sich ziehen können. Auch die Verbraucherzentralen fordern gesetzliche Regelungen für den „Grauen Pflegemarkt“ zum Schutz der Verbraucher.
Ambulante Pflegedienste: mehr Rechte für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige
Die Verbraucherrechte bei ambulanten Pflegeverträgen müssen gestärkt werden: Pflegebedürftige und ihre Angehörigen haben Bedenken, Wünsche und Kritik zu äußern, weil sie eine Kündigung durch den ambulanten Pflegedienst fürchten. Aber ohne Pflegedienst ist die Versorgung nicht gesichert, denn Pflegedienste sind rar gesät.
Verbraucherzentralen haben bei einer Marktprüfung festgestellt, dass viele Pflegeverträge gegen geltendes Recht verstoßen. Deshalb müssen auch hier gesetzliche Regelungen für Klarstellung sorgen, z.B. zum beiderseitigen Kündigungsrecht, zu Preisanpassungen, dem Umgang mit Mängeln und zum Informationsrecht der Pflegebedürftigen. Bundeseinheitliche Musterverträge können Rechtssicherheit bieten.
Künftig sollen für eine bessere Kommunikation regelmäßige Feedback-Gespräche von der Pflegekasse bezahlt werden.
Die Pflegekassen sollen einen größeren Beratungsbeitrag, z.B. in der Vertragsgestaltung und mit Preisvergleichslisten, leisten.
Digitale Lösungen können den Pflegebedürftigen dabei helfen, den Überblick über die bereits in Anspruch genommenen Leistungen zu bewahren.
Mehr Selbstbestimmung in der Wohnortwahl bei pflegebedürftigen Menschen
Das Wunsch- und Wahlrecht des Wohnortes muss ohne Kostenvorbehalt gewährt sein. Ist eine stationäre Unterbringung günstiger als die Versorgung zu Hause, muss zurzeit ein pflegebedürftiger Mensch nachweisen, dass eine stationäre Versorgung unzumutbar ist. Dies widerspricht dem Selbstbestimmungsgedanken.
Jetzt für gute Arbeitsbedingungen in der Pflege sorgen
Professionelle Pflegefachpersonen sind „Mangelware“ auf dem Arbeitsmarkt. Doch jede noch so intelligente Anwerbung und steigende Ausbildungszahlen laufen ins Leere, wenn die Fachkräfte nach wenigen Jahren ihren Beruf verlassen, um nicht auszubrennen.
Auch zehntausende Pflegefachpersonen der Baby-Boomer-Generation verabschieden sich in die Rente. Deshalb bringen mehr qualifiziertes Personal, mehr Lohn und verlässliche familienfreundliche Arbeitszeiten eine stabile Pflegeversorgung in der Zukunft. Auch im Pflegesektor kann man mit Springerpools und Lebensarbeitszeitkonten arbeiten. Starke Gewerkschaften und aktive Pflegekammern sind der Schlüssel für faire Löhne und gute Arbeitsverhältnisse.
Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass die Einrichtungsbetreiber ihre Vorleistungen lückenlos refinanziert bekommen. Denn bislang erkennen die Kostenträger wie Pflegekassen, Sozialhilfeträger und Pflegebedürftige sich erhöhende Entgeltkosten häufig nicht an. Die Vergütungsverhandlungen zwischen Einrichtungsbetreibern und Kostenträgern müssen sich deutlich vereinfachen.
Attraktiver Pflegeberuf mit eigenverantwortlichem Handeln
Das hierarchische Denken am Pflegebett muss zugunsten einer funktionalen Aufgaben- und Verantwortungsaufteilung weichen. Dazu muss die generalistische Pflegeausbildung und der Ausbau qualifizierender Pflegestudiengänge weiter umgesetzt werden. Gut ausgebildete Pflegefachpersonen können eigenverantwortlich handeln, weil sie Profis im Pflegebereich sind.
Kostenbeteiligung der Pflegebedürftigen begrenzen
Die Mehrkosten und Strukturveränderungen in der Pflegeversorgung müssen von der Solidargemeinschaft getragen werden und dürfen nicht bei den Betroffenen allein hängen bleiben.
Krankenhausplanung muss sich nach dem Versorgungsbedarf und nicht nach möglichen Erlösen richten
Dazu müssen Fehlanreize im DRG-System aufgehoben werden – wenn Patienten stationär aufgenommen werden, obwohl sie aus ärztlicher Sicht ambulant behandelt werden können, bindet dies unnötig teure Infrastruktur im Krankenhaus (Pflegefachpersonen, Ärzte, Verwaltung).
Eventuell kann nach dieser Planung nicht jedes Krankenhaus und jede Station erhalten bleiben, aber eine effiziente Gesundheitsversorgung über Bundesländer hinweg gewährleistet werden.
Die Pflege reformieren mit mutigen und finanzierbaren Maßnahmen
Andreas Westerfellhaus hat für die Pflegebedürftigen, die Pflegefachpersonen und die Pflegebranche wichtige Forderungen vorgelegt, die über die Legislaturperiode hinaus gedacht sind. Seine weiteren Ideen, z.B. den Freiwilligendienst in einen Pflichtdienst umzuwandeln, zeigen, dass er die Pflege in der Mitte der Gesellschaft sieht.
Kürzlich hat sich die Bundesregierung auf eine kleinere Pflegereform 2021 verständigt, die die bessere Bezahlung von Pflegefachpersonen fokussiert: Für sie soll es mehr Geld geben und zugleich höhere Beiträge für Kinderlose.
Da die Zeit bis zur Bundestagswahl knapp wird, will die Große Koalition die Teilreform nun rasch auf den Weg bringen – das Parlament soll noch im Juni 2021 beschließen. Kein großer Wurf und halbherzig, kritisieren Verbände, die Opposition und einige Kassen. Auch an der Finanzierung scheiden sich die Geister.
Unbestritten ist, dass die Maßnahmen erforderlich sind. Doch die bereits umgesetzten Reformen sind teuer. In der Pflegeversicherung klafft schon jetzt eine Milliardenlücke – die Beitragssätze für die gesetzlichen Sozialabgaben müssen sozial verträglich bleiben.
Ob Akzeptanz, Umsetzungswille und Finanzierbarkeit für eine große Reform mit einer neuen Bundesregierung realistisch sind, bleibt abzuwarten.