Worst case, Alltag, Extremsituation, Routine? Oder alles zugleich? – Das Thema Tod ist für Pflegende sicher eine besondere Herausforderung. Zum einen geht es darum, im Umgang mit Sterbenden die Empathie nicht zu verlieren, andererseits aber auch Strategien zum Selbstschutz zu entwickeln, um sich nicht dauerhaft zu verausgaben.
Ringvorlesung „Blut und Tinte“: Thema Chronisch Sterben und Mitsterben
In der Ringvorlesung Blut und Tinte – Medizin und Literatur im Gespräch, einer Veranstaltungsreihe der Charité – Universitätsmedizin Berlin und der Universität Konstanz in Kooperation mit der Europäischen Künstlergilde für Medizin und Kultur und dem Einstein-Zentrum Chronoi, moderiert von Dr. Jens Stupin, werden unter dem Titel Chronisch Sterben und Mitsterben zwei Texte vorgestellt, die dieses Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchten.
„Blut und Tinte“ aus der Sicht der Angehörigen – auch sie leiden chronisch
Prof. Dr. Markus Vinzent (Religionshistoriker, Autor, Hochschullehrer und Seelsorger) beschreibt in seinem Romanfragment Leben lassen eindringlich die Situation eines Angehörigen einer Krebserkrankten. Rückblickend auf eine von Diagnosen, Chemotherapien, Hormonbehandlungen, Immuntherapien und Operationen geprägte Zeit, durch die der Ich-Erzähler seine Frau begleitet, wird diesem klar: „ … dass ich vor neun Jahren an (ihrer) Krankheit miterkrankt war, dass ihre Metastasen auf mich übersprangen …“. Während er und die gemeinsamen Kinder ihre ganze Kraft einbringen, um gute Rahmenbedingungen für die Erkrankte zu schaffen und damit die belastenden medizinischen Behandlungen so gut es geht zu unterstützen, sieht er im Nachhinein: „Ich hatte versäumt zu erkennen, … dass ich nicht weniger … erkrankt war als sie“ und dass die Aussage des Onkologen – „Sie leiden an chronischem Sterben“ – nicht nur Erkrankte betrifft, sondern auch ihnen Nahestehende.
Zwei Aspekte ziehen sich durch diesen von Schwere getragenen fiktionalen Text: pflegende Angehörige thematisieren im Moment der Hilfestellung ihre eigene Angegriffenheit und Hilfsbedürftigkeit kaum, ja oftmals werden diese Bedürfnisse, falls bewusst, hintenan gestellt, weil die Krebserkrankung so viel schwerer wiegt. Zudem ist es für Angehörige so gut wie unmöglich, sich emotional abzugrenzen von der Leidenssituation des Erkrankten oder Sterbenden: „Doch in der Frauenonkologie gibt es keine Männerstation. Keine für die Metastasen der Partner, der Ärzte. Für die Frauenonkologie habe diese die falschen Metastasen.“
Hilfestellung oder Unterstützung für die mittelbar Betroffenen im Zusammenhang mit dem Tod ist also das Thema.
„Blut und Tinte“ aus der Perspektive des Arztes – gute Kommunikation ist die Grundlage
Ergänzend zum Beitrag von Prof. Dr. Markus Vinzent stehen die Texte von Prof. Dr. Jalid Sehouli (Ordinarius der Klinik für Gynäkologie und Zentrum für onkologische Chirurgie der Charité, Schriftsteller), die ebenfalls den Umgang mit dem Tod thematisieren; es sind Passagen aus seinem Buch: “Von der Kunst, schlechte Nachrichten gut zu überbringen“ (München 2018, Kösel-Verlag).
Prof. Sehouli schildert darin Situationen aus dem Klinikalltag auf der onkologischen Station und verknüpft diese Erfahrungen mit dem Appell, Ärzten während der Ausbildung auch Kommunikationsstrategien nahe zu bringen, da diese für eine gute Beziehung zu den Patienten und eine erfolgreiche Therapie mindestens ebenso wichtig sind wie das Erlernen von Operationstechniken. Aus der Begegnung mit chronisch Erkrankten und Sterbenden sind viele Tipps für den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Arzt und Patient entwickelt worden, die sowohl für Angehörige als auch Menschen in Pflegeberufen enorm hilfreich sind. Einen Einblick in das Buch hat die Autorin dieses Beitrags bereits in einem früheren Blogartikel gegeben: Schlechte Nachrichten überbringen: Eine Kunst.
Grundlage für ein derart vertrauensvolles Verhältnis sind Offenheit des Arztes sich selbst und anderen gegenüber; dabei sind eigene Gefühle wie Trauer, Mitleid und Wut im Gleichgewicht zu halten mit der notwendigen Abgrenzung davon, als Selbstschutz, weil er dafür sorgen muss, dass er stabil genug ist, seine Arbeit gut zu machen. Indem er Reaktionen auf Verlust und Schmerz reflektiert, ermöglicht er einen angemessenen Umgang mit diesem Thema.
Einmal mehr wird auch hier die Bedeutung kreativen Schreibens deutlich: „Schreiben kann helfen, die eigenen Gefühle zu artikulieren, sie sichtbar zu machen … dabei geht es mehr um den Prozess der Selbstreflektion, des Dialogs mit sich selbst als um das Produkt des Schreibens.“ (Von der Kunst, schlechte Nachrichten gut zu überbringen, S. 116)
Im Verlauf des Gesprächs zwischen Vinzent und Sehouli wird das Thema der Veranstaltung Chronisches Sterben aufgegriffen, das die alltägliche Erfahrung mit Menschen umschreibt, die eine „schlechte“, also lebensbedrohliche Nachricht erhalten haben, und diskutiert, dass sich unsere Gesellschaft und insbesondere Ärzte zu sehr mit negativ konnotierter Krankheit beschäftigen, statt mit Gesundheit, Lebenserhaltung und Stärkung von Lebens-Werten (Vinzent). Sehouli betont, der Begriff „chronisch“ sollte nicht automatisch negativ besetzt, sondern als Prozess angesehen werden; ein Prozess, in dem der Patient auch die Chance hat, intensiv jeden Tag zu leben, selbst wenn Heilung nicht mehr erwartet wird. „Sterben lernen heißt leben lernen“, so Sehouli. „Fragen Sie Ihren Patienten, was ihm wichtig ist, was er konkret erleben möchte, welches Buch da auf dem Nachttisch liegt; Literatur schafft Kreativität und Glücksmomente.“ Und, sowohl auf künftige Ärzte als auch auf die Pflege bezogen: „Mitleiden ja, Mitleid nein, das entzieht Verantwortung. Ihre Trauer darf nicht die des Patienten übertreffen! Mitleid lähmt. Patienten wollen begleitet werden, aber kein Mitleid spüren.“
Wissens- und Erfahrungsfelder – eine Annäherung
Die Ringvorlesung „Blut und Tinte“ wurde von einem Team der Europäischen Künstlergilde für Medizin und Kultur (www.eukmk.eu) initiiert. Dieser gemeinnützige Verein setzt sich für etwas ein, wonach sich viele Menschen sehnen: Für die ganzheitliche Betrachtung des Menschen. Das ist das Anliegen und die Motivation. So rückt in dieser Ringvorlesung die Integration der Beziehung zwischen Arzt und Patient, zwischen Angehörigem oder Pflegendem und Patient ins Rampenlicht. Diese und andere Themen sollen beleuchtet werden und zum öffentlichen Dialog führen, neue Gesundheitskonzepte erdacht werden. Folgerichtig sind sowohl Medizin- als auch Literaturstudenten zu diesen Ringvorlesungen eingeladen. Die Wissensfelder von Literatur und Medizin werden zusammengebracht, um fruchtbare Ansätze zu den gemeinsamen Themen einzubringen und weiterzuentwickeln.
Welchen Themen widmen sich Medizin und Literatur?
Was könnten gemeinsame Themen sein, denen sich die Medizin und auch die Literatur widmet? Allein die Rolle des Angehörigen und die des Arztes, aber auch „Gesundheit“, „Krankheit“, „Psyche“ und „Körper“ – all diese Begriffe und ihr Zusammenspiel bieten Stoff zur Auseinandersetzung; einer Auseinandersetzung, die sich in einer 360-Grad Perspektive dem Menschen widmet. Die Ringvorlesung „Blut und Tinte“ ist intellektuelles Gedankenfutter, aber wie geht es danach weiter – erste Ansätze klangen an.
Wie gelingt der Praxistransfer?
Neben der gelingenden Kommunikation sind komplementäre -ergänzende- Therapien ein Weg, sich des Menschen in einer ganzheitlichen Perspektive anzunehmen. „Ärzte müssen begreifen, dass sie gemeinsam mit anderen Therapeuten mehr erreichen“, so sinngemäß Prof. Sehouli in der Ringvorlesung. Er hat an der Frauenklinik der Charité den Weg in die Praxis gebahnt, indem er auf seiner Station betroffenen Frauen nicht nur Maltherapie, sondern auch die Biblio- und Schreibtherapie anbietet. Seit einigen Jahren werden mit dieser psycho-sozialen Intervention erfolgreich an Krebs erkrankte Frauen unterstützt.
Mittlerweile wurde dieses Konzept an einem Dutzend Universitätskliniken vorgestellt und ist jetzt auch in Teilen online verfügbar. kreativtour.info
Poesietherapie sowie Schreiben für Gesundheit und Lebensfreude als ergänzende Therapieformen
„Das Schreiben hat mir durch die Krebserkrankung geholfen, es war heilsam für mich“, so äußern sich Frauen aus der Schreibgruppe immer wieder. Muss diese Form der Künstlerischen Therapien mit Studien untermauert werden, damit Mediziner sie auf Rezept verschreiben? Sich über das Schreiben vielleicht auch entlasten, so wie Prof. Sehouli, der nicht nur Mediziner und Fachbuchautor, sondern auch belletristischer Autor ist: Immer wieder beschreibt er in seinen Büchern, wie Schreiben ihm selbst durch Krisen geholfen hat https://www.bebraverlag.de/autoren/autor/657-jalid-sehouli.html
Ein erster Schritt
Ein klares Bekenntnis von Medizinern zu der Kraft des Schreibens und dem Schreiben als Therapie ist ein erster Schritt hin zu einer visionären Welt, in der chronisch erkrankten Menschen derartig komplementäre Therapien zugänglich gemacht werden; also Gruppensitzungen oder Schreibseminare, die von der Krankenkasse bezahlt werden wie ein Medikament, weil sie dazu beitragen, dass Menschen nicht nur ihre Krankheit besser bewältigen, sondern auch ihre Lebenskraft erhöhen.
Aber wie überzeugt man Mediziner, die Literatur und Schreiben ausschließlich privat nutzen, vom Wert der Biblio- und Schreibtherapie? Vielleicht auch durch Veranstaltungen wie dieser Ringvorlesung, in der ausdrucksvolles Schreiben und seine gesundheitlichen Implikationen vorgestellt werden, in der die Sicht des Angehörigen der Perspektive des Arztes gegenübersteht. In der eindringlich klar gemacht wird: Wir müssen mehr tun, damit auch die psychische Komponente Beachtung findet, die Seele nicht überstrapaziert wird, sondern Heilung findet.
„Wo die Tat nicht spricht, wird das Wort nicht helfen“, mit diesem Schiller-Zitat schloss der Moderator – selbst bekennender Literat – die Veranstaltung.