Biografisches und Kreatives Schreiben – wichtiges Instrument in der Pflege

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Nur zu häufig ist das Bedürfnis alter Menschen, sich der eigenen Erinnerungen zu vergewissern, gerade Pflegenden sehr vertraut. Senioren wollen erzählen. Oft in einer Situation, in der keine Zeit dafür da ist, zuzuhören oder sich mit diesem Erinnerungsprozess weiter zu beschäftigen. Das ist sehr schade, denn die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben spielt in den späteren Lebensjahren eine besondere Rolle.

Der rote Faden im Leben

Gerade im Alter ist es wichtig, sich der eigenen Identität zu versichern. Das macht Patienten zu zufriedeneren Menschen. Dazu gehört, sich zu erinnern und das eigene Leben mit allen guten und schlechten Erfahrungen anzunehmen;  einen roten Faden zu sehen und damit einen Sinn. Nebensächlich, was dabei „wahr“ ist oder wie bei der Autobiografie des Autors und Nobelpreisträgers Garcia Marquez vom Wahrheitsgehalt her nicht so genau zu erfassen ist.  Es geht darum, das Leben in der Geschichte, die man sich selbst und anderen erzählt, über die Erkenntnis und Ausschmückung darüber rund werden zu lassen.  Dieser „Wahrheitsrelativismus“  läuft parallel zum „dokumentarischen Wahrheitswillen“.

Therapeutische Reise nach innen

Robert Neil Butler war ein amerikanischer Erinnerungsforscher, der  vor allem mit Senioren arbeitete. Er bezeichnete das bewusste Erinnern als einen gesunden Mechanismus der Psyche: Im Erinnern binden wir unsere bisherige Lebensgeschichte zu einem vorläufigen Ganzen zusammen. Eine therapeutische Reise nach innen, auf der ältere Menschen Bedeutung und Muster ihres Lebens entdecken. Oft sind ältere Menschen aber einsam, haben keine Enkel oder Verwandte, die sich ihrer annehmen. Ihnen zuhören, wenn sie es am meisten brauchen. In einer Schreibgruppe finden sie zeitweise die Zuhörer, die sie suchen.

Erinnerung wecken – im Einzelgespräch oder in der Schreibgruppe

Erinnerungen können bewusst initiiert werden – das heißt, man schafft gezielt Räume und Anregungen, in denen einzelne Erinnerungen leichter aufkommen. Das kann ein Einzelgespräch sein oder auch eine Schreibgruppe, in der mehrere Senioren regelmäßig zusammen kommen. In der Gruppe werden die Texte geteilt  und somit auch das Erinnern und Würdigen eines jeden Lebens.

Mit den richtigen Schreibanregungen ist es leicht, auf die Spur der Erinnerung zu kommen. Wenn Pflegekraft oder Sozialarbeiterin die Aufgabe erteilt, dass die alte bettlägerige Dame den Satz: „Ich bin/war eine Frau, die… “ 10x wiederholt und vervollständigt, wird sie staunen, was dabei alles zu Papier kommt. Durch das stetige Wiederholen des Satzes „Ich bin eine Frau, die…“ hat das Gehirn durch die verlangsamte Hand die Möglichkeit, aus der Vielzahl der Möglichkeiten auszuwählen und nur das Wichtigste zu Papier zu bringen. So wird eine solche Folge an ‚Seriellem Schreiben“ eine berührende Sammlung von Fakten zutage bringen. Die eigene innere Stimme zu entwickeln, im eigenen Stil ausdrücken, was ich zu sagen habe: das stärkt, und nach dem Zurückblicken kommt das zuversichtliche ’noch ein Stück nach vorn‘ Schauen. Der Fluss der eigenen Kreativität inspiriert, lässt gute Gefühle aufkommen.

Selbstwirksamkeit macht munter

Schreibende SeniorInnen sind einfachere Patienten. Nicht nur, weil sie sich selbst beschäftigen, sondern weil sie ihre Selbstwirksamkeit spüren: Sie gestalten die Geschichte, sie bestimmen, wie sie ausgeht. Das bringt sie auf Trab, sodass sie auch andere Tätigkeiten und Therapien ernsthafter betreiben. Wer wir sind, wer wir waren, wie wir damals waren und was wir erlebten – die Erzählungen darüber bringen manchmal ein sentimentales Gefühl herauf, oft aber auch einen Stolz. Das was geleistet wurde wird bewusst. Die Schreibaufgaben und die Schreibgruppenleiterin steuern: Den Blick auf Erreichtes und zu Würdigendes, auf das halbvolle und nicht das halbleere Glas.  So wird zum Beispiel eine Sammlung von Fähigkeiten, auf die der Senior stolz ist im Leben, ihn mit Befriedigung erfüllen, auch wenn es scheinbar nur kleine Fertigkeiten sind. Oder eine Liste der Momente, die einen immer froh gemacht haben, gut ankommen: Weil sie den Blick von Schreibenden und Zuhörenden auf das Beglückende richten.

Ein Jungbrunnen für Senioren

Studien haben herausgefunden, dass Senioren sich länger jung verhalten, wenn man ihre Wohnumgebung so gestaltet, wie sie in früheren Jahren war. Sind die Senioren wie in einer Zeitmaschine in eine Umgebung versetzt, die an die WG von vor 60 Jahren erinnert, verhalten sie sich auch jünger: Sie nehmen aktiv am Leben teil, werden agiler und bewegen sich mehr. Schreiben und Kognitives Training haben sich auch in der Demenzprävention bewährt.

Biografisches Schreiben bewirkt ein ähnliches Phänomen wie das Verändern der Wohnumgebung. Schreibt die Sozialpädagogin/ Pflegekraft/ Kunsttherapeutin nur 1-2x pro Woche mit einer Seniorengruppe über die Jugendzeit der Senioren, werden sich in kürzester Zeit die Teilnehmer der Gruppe wesentlich agiler verhalten. Darüber hinaus ist das gemeinsame Schreiben und Teilen der Geschichten die beste Möglichkeit, sich intensiv kennen zu lernen. So können Freundschaften unter den Teilnehmern entstehen. Wer biografische Übungen erstellt, sollte übrigens nicht chronologisch vorgehen, sondern bei den Interessengebieten der Teilnehmer anknüpfen. Wobei natürlich fast alle Patientinnen sich an emotional berührende Erlebnisse wie den ersten Schultag oder die Schulzeit generell erinnern können sollten. Als Impulse sind Bilder aus der jeweiligen Zeit am einfachsten zu verwenden, oder auch eine Kiste mit Kochgeschirr oder Handwerkszeug kann Erinnerungen wecken.

Materialien zur Anregung – Empfehlungen

Beim biographischen Schreiben werden häufig Fotos verwendet, welche die Erinnerung an eine bestimmte Phase auffrischen sollen. Hier einige Empfehlungen dazu, wie Sie mit Patienten arbeiten können.

In der Gesundheitsförderung mit Kreativem Schreiben sind Spiele besonders beliebt.  Eine einfache Methode ist,  das bekannte „Stadt Land Fluss“ in  „Stadt Land Mord“ abzuwandeln oder „Stadt Land Kuss“: daraus zu machen. Dafür kann die Pflegeleitung Vorlagen kaufen oder selbst gestalten. Kategorien wie Verbrecher, Spitzname, Fluchtwagen, Fluchtort, mildernde Umstände können die Grundlage für einen kleinen Krimi sein; und wenn die TeilnehmerInnen sich dann kreativ warm gespielt haben, trauen sie sich auch an die eigene Biografie: Kategorien wie Liebespaar, Ort der Begegnung oder des ersten Kusses bieten die perfekte Kulisse für eine im Anschluss geschriebene Mini-Liebesgeschichte. Wir von Sudijumi verwenden auch gerne die Happy Box, in der 77 Karten als Schreibanregung dabei helfen, das Leben zu genießen. Perfekt dafür, um alleine oder in der Gruppe zu arbeiten! Hier einige unserer weiterführenden Übungen aus dem Gesundheitsfördernden Kreativen Schreiben.

Ausbildung zum Schreibpädagogen als Studium

Professionelle Schreibtherapeuten sind -wie wir von Sudijumi-  häufig an der Alice-Salomon-Hochschule ausgebildet. Das kreative und biografische Schreiben spielt in Gesundheits- und psychosozialen Berufen auch in Deutschland eine zunehmend große Rolle. In den USA, GB und Skandinavien ist Schreiben bereits seit langem ein wichtiger Teil sozialpädagogischer Arbeit. Längst hat die amerikanische Creative-Writing-Forschung nachgewiesen, dass diese Form von Schreiben gesundheitsförderlich ist. Für den deutschsprachigen Raum bietet die Alice Salomon-Hochschule deshalb als erste Hochschule einen berufsbegleitenden Master-Studiengang Biografisches und Kreatives Schreiben und damit eine akademische Qualifikation in Kreativem Schreiben an.

Ausbildung Schreibtherapeut oder Poesietherapeut

Es gibt jedoch auch Ausbildungen, die allen offen stehen, zum Beispiel beim IEK Berlin. Oder auch die Schreibgruppenleiter- oder Poesietherapeuten-Ausbildung beim IKS Berlin. Darüber hinaus finden Sie Schnupperkurse und  Weiterbildungen zum Schreibgruppenleiter/ Schreibtherapeuten bei uns, Sudijumi

ist Autorin und Bloggerin, Master of Creative and Biographical Writing, Kunst- und Kreativitätstherapeutin. Sie ist auf Initiative von Prof. Dr. Jalid Sehouli mit Schreibprogrammen zur Gesundheit an der Frauenklinik der Charité aktiv. Ihr Buch "Mit Schreiben zu neuer Lebenskraft" ist beim Kösel-Verlag erschienen. Darüber hinaus berät sie Kliniken, Rehas und andere Organisationen, wie sie das Schreiben als wirksames Instrument zur Gesundheitsförderung einsetzen können. An der Psychiatrie der Charité erhält sie die Förderung des Gesundheitsfonds für ein Konzept zur Entlastung und Stärkung von Mitarbeitern in der Pflege. In der Vorstandsarbeit der Europäischen Künstlergilde für Medizin und Kultur setzt sie sich für eine ganzheitliche Medizin ein.
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