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Expertenstandard Sturzprophylaxe – Hinweise zur Umsetzung der zweiten aktualisierten Fassung 

Inhaltsverzeichnis

Risikofaktoren für Stürze bei älteren Menschen 

Die Ursachen für Stürze sind vielfältig. Mit zunehmendem Alter nimmt naturgemäß die Reaktionsfähigkeit des Menschen ab, was zu einem erhöhten Sturzrisiko führt. Weitere physiologische Altersveränderungen erhöhen die Anfälligkeit. So haben 65-Jährige schon 25 Prozent weniger Muskelmasse als 25-Jährige. Das Sichtfeld ist eingeschränkt und auch das Hörvermögen kann deutlich vermindert sein. Kommen außerdem noch Erkrankungen oder Behinderungen hinzu, kann mitunter jede Eigenaktivität, wie das Ein- und Aussteigen aus dem Bett oder der Gang zur Toilette zur Gefahr werden.  

Der Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege unterscheidet personen-, medikamenten- und umgebungsbezogene Risikofaktoren. 

Personen- und medikamentenbezogene Risiken können sein 

  • Funktionseinbußen in Folge von Erkrankungen 
  • Sehbeeinträchtigungen 
  • Beeinträchtigung von Kognition und Stimmung (Demenz, Depression) 
  • Erkrankungen, die zu kurzzeitiger Ohnmacht führen 
  • Inkontinenz 
  • Angst vor Stürzen 
  • Stürze in der Vorgeschichte 
  • Medikamentenwirkungen und -nebenwirkungen
     

Immer zu beachten ist die sturzfördernde Wirkung bestimmter Medikamenten-Stoffklassen (Neuroleptika, trizyklische Antidepressiva, Sedativa und Tranquilizer, Hypnotika, Muskelrelaxantien, Betablocker, Diuretika, u.a.). 

Liegen Krankheitsbilder vor, die mit gravierenden Funktionseinbußen und -beeinträchtigungen einhergehen, wie z.B. Morbus Parkinson und Inkontinenz, so kann grundsätzlich von einer erhöhten Sturzgefahr ausgegangen werden. Das gleiche gilt bei Erkrankungen, die zu kurzzeitiger Ohnmacht führen können, wie Epilepsie, Diabetes mellitus oder Herzerkrankungen. 

Akut internistische Erkrankungen wie Pneumonien und Harnwegsinfekte bei geriatrischen Patient*innen können als Sturzrisiken ebenso eine Rolle spielen wie Dehydration (Austrocknung), Anämie und Elektrolytstörungen. Funktionseinbußen bei den folgenden Erkrankungen führen häufig zu erhöhtem Risiko: Multiple Sklerose, Morbus Parkinson, Schlaganfall, Polyneuropathien, Arthritis, Krebserkrankungen, chronische Erkrankungen oder ein schlechter Allgemein- und Ernährungszustand. Aber auch die Verwendung von Hilfsmitteln, unpassendes oder ungewohntes Schuhwerk und Gefahren in der Umgebung (Stolperfallen, schlechte Beleuchtung, Glatteis, etc.) können ursächlich sein. 

Umgebungsbezogene Risikofaktoren 

In Fallbesprechungen könnten Pflegemitarbeitende zusammentragen, wo aus ihrer Sicht beim Pflegebedürftigen solche Risiken liegen können; dies wäre zudem ein gewisser Beitrag zur Mitarbeiterschulung im Zuge der Sturzvermeidung.  
Beispiele: 
Rutschige Böden, Stolperfallen, fehlende Griffe und Haltemöglichkeiten, lange Wege, fehlende Orientierungshilfen, fehlangepasste Mobilitätshilfen, zu geringe Beleuchtung und Ausschilderung, nicht angepasste Badmöbel, fehlende Transferhilfen, u.v.m. 

Die Risiken sollten von einer zuständigen Pflegefachkraft in einem ersten Screening (als Basis für eine Fallbesprechung) erfasst und dokumentiert sein. 

Assessment und Dokumentation im Rahmen der Sturzprophylaxe 

Entsprechend dem Expertenstandard Sturzprophylaxe ist im Rahmen des pflegerischen Assessments eine Identifikation des konkreten Risikos für einen Sturz verpflichtend und muss aus der Dokumentation ersichtlich sein. Die erfolgte Risikoidentifikation muss zu Konsequenzen hinsichtlich pflegerischer Beratung und Maßnahmenplanung führen. Besonders zu beachten ist, dass ein erstmaliger Sturz ein Hinweis auf eine abklärungsbedürftige Erkrankung sein kann!  

Eine Einteilung der Sturzfolgen in vier Klassen nach Morse mit einer Angabe der ungefähren Anteile: 

Klasse 

Merkmale / Beispiele 

Ungefährer Anteil 

1) Keine Verletzung 

Keine Abschürfungen Verletzungen, Schmerzen 

48% 

2) Kleinere Verletzung 

Kleine Quetschungen, Abschürfungen; ohne medizinischen Behandlungsbedarf 

20% 

3) Mäßige Verletzung 

Quetschungen, leichte Prellungen, Frakturverdacht, entfernte Drainagen, Schürfwunden 

27% 

4) Größere Verletzung 

Frakturen, starke Prellungen, Sehnenrisse 

5% 

 

(Wenn man einmal nüchtern die bekannten Statistiken analysiert, dann müsste ein*e zu Pflegende*r über zwanzig Mal stürzen, bis er/sie sich eine Fraktur zuzieht.) 

Erfolgsmessung und Qualitätssicherung bei Sturzpräventionsmaßnahmen 

Die Auswertung einer Sturzstatistik sollte nicht nur die Anzahl von Stürzen in den Blick nehmen, sondern sollte neben den Fragen nach den Sturzzeiten, den Sturzorten usw. und die Sturzfolgen bewerten. Ein deutlich erhöhtes Frakturrisiko liegt beispielsweise vor, wenn eine Osteoporose zu den Diagnosen zählt. Ebenso haben Patient*innen, die blutverdünnende Medikamente einnehmen müssen, ein sehr hohes Risiko für schwere Sturz-Folgeschäden. 

Nach Einführung des Expertenstandards wurde sehr schnell deutlich, dass nicht eine geringe Anzahl der Stürze das alleinige Qualitätsmerkmal darstellt. Im Gegenteil, eine höhere Anzahl von Stürzen kann geradezu ein Ausdruck guter Pflegequalität sein: Es wird weniger fixiert und fremdbestimmt! Menschen werden mobilisiert, und Bewegung gehört zu einer guten Lebensqualität. Allerdings sollte die Quote von Sturzfolgen der Kategorien 3 und 4 möglichst gering sein. 

Definition des Expertenstandards und Einschätzung von Sturzhäufigkeiten 

„Ein Sturz ist ein Ereignis, bei dem der Betroffene unbeabsichtigt auf dem Boden oder einer anderen tieferen Ebene aufkommt.“ So lautet die Definition des Expertenstandards Sturzprophylaxe. Für eine Einrichtung mit 80 Pflegeplätzen ist von einer Sturzanzahl von ca. 200 Stürzen im Jahr auszugehen. In den Pflegeheimen geht man von einer Sturzquote von etwa sieben Prozent aus. Die Quote errechnet sich folgendermaßen: Anzahl der Stürze / (geteilt durch) Belegungstage * (mal) 1000 
Eine Abweichung oberhalb sieben Prozent würde der Einrichtungsleitung Handlungsbedarf signalisieren. 

Umfeldgestaltung und Sturzfolgen 

Schaut man sich genauer an, wo Bewohner*innen in Pflegeheimen stürzen, dann fällt auf, dass sie in den allermeisten Fällen im eigenen Zimmer oder dem eigenen Bad stürzen. Sehr viel seltener stürzen sie auf Fluren oder im Wohn- und Essbereich. Das legt den Schluss nahe, dass dann weniger Stürze passieren, wenn die Bewohner*innen sich im direkten Aufsichtsbereich oder in der Zusicht von Pflegenden befinden. Wo sich insbesondere demenzerkrankte Pflegebedürftige nicht im Blickfeld befinden, können Bewegungsmelder sinnvoll sein, um eine Assistenz oder Hilfe beim Aufstehen anbieten zu können. 

Die gefürchtetste wie häufigste Sturzfolge gerade bei alten Menschen ist mit über 100.000 Fällen pro Jahr der Oberschenkelhalsbruch. Menschen, die einmal gestürzt und gangunsicher sind, ändern die Lebensweise, wagen nicht mehr, ihre vertraute Umgebung zu verlassen und leiten damit eine soziale Isolation und weiteren Muskelabbau ein. 25% der Gestürzten zeigen Symptome eines solchen Post-Fall-Syndroms, welches häufig korreliert mit zunehmender Gangunsicherheit, erhöhtem Sturzrisiko, weiterer Verschlechterung der Knochenstruktur und Depression. Die Betroffenen geraten hier leicht in einen Teufelskreis. 

Maßnahmen zur Sturzprävention in Pflegeeinrichtungen 

Oft entwickeln pflegebedürftige Menschen erst deswegen eine Osteoporose, weil sie nicht mehr regelmäßig und ausreichend ans Tageslicht kommen. Daher sind Spaziergänge im Freien eine sehr gute Maßnahme, die Knochensubstanz möglichst stabil zu halten, mithin Frakturprävention. Neben entsprechender Calcium- und eiweißreicher Ernährung und bekannten sturzprophylaktischen Maßnahmen ist vor allem zu schauen, wie Sturzfolgeschäden, zum Beispiel durch den Einsatz von Helmen, Ellbogen- und/oder Knieschützern oder Trochanterschutzhosen, minimiert werden können. Die neue Fassung des Expertenstandards hebt auch hervor, dass podologische Interventionen empfohlen werden,  

Der alte Mensch sollte seinen zunehmenden Hilfebedarf möglichst zeitnah und unkompliziert zum Ausdruck bringen können, damit passgenaue Interventionen folgen können. 

Multifaktorielle Ansätze zur Sturzvermeidung 

Sturzprävention ist eine multiprofessionelle Aufgabe, bei der professionelle Pflege die entscheidende Rolle als Expert*innen, Berater*innen oder als Vermittler*innen einnimmt. Durch den Einsatz von Hilfsmitteln, die Beachtung grundlegender Prinzipien und gezielte Trainings kann die Häufigkeit und Schwere der Folgen von Stürzen nachweislich verringert werden. Nur zehn Prozent der Stürze sind extrinsisch bedingt. Hier greifen insbesondere Maßnahmen der Umfeld- oder Umgebungsgestaltung, der Wohnraumanpassung, des barrierefreien Zugangs und des gezielten Hilfsmitteleinsatzes zum Beispiel mit Rollatoren oder angepassten Rollstühlen. Zehn Prozent der Stürze beruhen auf Synkopen bzw. Ohnmachtsanfällen oder Schwindel. Ist die Ursache für Stürze bekannt, müssen Mediziner und Pflege insbesondere hinsichtlich Arzneimittelgabe und Krankenbeobachtung gut zusammenarbeiten. 

Gerade die Abhängigkeit von Hilfe, sei es im Hinblick auf die Mobilität, sei es im Hinblick auf das entsprechend eingesetzte Hilfsmittel, erhöht die Anzahl gefahrengeneigter Situationen. Regelmäßiges, geplantes und individuell abgestimmtes Toilettentraining stellt eine gute Sturzprophylaxe dar und verhindert langfristig, dass zu voreiligen Fixierungsmaßnahmen gegriffen wird. In diesem Zusammenhang kann auch das Drei-Schritte-Programm sowie gezieltes Training der Standsicherung hervorgehoben werden. Während eines jeden Bewegungstransfers soll der Pflegebedürftige einen Moment stehen und idealerweise drei Schritte machen, bevor er sitzt. Diese Maßnahme – regelmäßig und von allen durchgeführt – hat sich in der Praxis als sinnvoll im Hinblick auf die Sturzprävention erwiesen. 

Bedeutung von Mobilitätstraining 

Zwar muss bei bekanntem Sturzrisiko alles unternommen werden, um das Risiko zu verringern. Aber wie können Stürze verhindert werden? Auf keinen Fall durch Überbehütung oder Bewegungsvermeidung. Nur sitzen oder liegen, um die Sturzgefahr zu verhindern, bewirkt genau das Gegenteil. Beeinträchtigung der Kognition und Stimmung (Demenz, Depression) können die Folge sein. Jegliche Form der Bewegungseinschränkung sollte unbedingt vermieden werden. Geht sie einher mit aktiven Fixierungsmaßnahmen, bedarf sie zudem der richterlichen Genehmigung. 

 

Hilfsmittel und Methoden zur Unterstützung der Sturzvermeidung 

Folgende Prinzipien und Programme haben sich bewährt: 

  1. Gezielte krankengymnastische und langfristige Übungen zur Stärkung von Kraft und Balance mit Erhalt der Muskelmasse. 
  2. Schulung und Motivation zum Gebrauch von Hilfsmitteln aller Art (Rollatoren, Greifzangen, Meldesystemen, etc.): Hier ergeben sich oft Widerstände von Seiten der Betroffenen. Dennoch muss beraten werden und diese Beratungstätigkeit sollten Pflegende auch im Sinne der eigenen Rechtssicherheit dokumentieren! 
  3. Einsatz von Hilfsmitteln besonders gefährdeter Körperpartien z.B. Hüftprotektoren: Auch hier ist die Bereitschaft oft nicht vorhanden. Allerdings hat sich der Tragekomfort der entsprechenden Hilfsmittel in den letzten Jahren deutlich verbessert. 
  4. Spiele und Aktivitäten jeder Art, bei denen Kraft und Gleichgewichtssinn ein wenig herausgefordert werden: Neben dem Sitztanz und kreativen Spielangeboten sei hier besonders der Einsatz von Spielkonsolen empfohlen! Viele Einrichtungen machen damit gute Erfahrungen und diese Form der spielerischen Anwendung kann auch durch Betreuungskräfte erfolgen. 
  5. Mobilisation als integralem Bestandteil des Pflegekonzepts: Dies erscheint als die wichtigste Empfehlung.  Jeder Transfer und jede Begleitung aus dem Zimmer in andere Bereiche der Einrichtung ist ein Beitrag zur Sturzprophylaxe.  Jeder Transfer ist also als eine Chance und weniger als Risiko zu begreifen! 
  6. Viel Bewegung an frischer Luft: Sonnenlicht dient dabei nicht allein der Stimmungsaufhellung, sondern ist ebenfalls gut für die Knochenstruktur. Eine Ernährung, die insbesondere dafür sorgt, dass die Knochendichte verbessert (Osteoporoseprophylaxe) wird. 
  7. Angepasste Umfeldgestaltung, Kleidung und Schuhwerk  
  8. Podologische Expertise 
  9. Sicherstellung, dass Pflegebedürftige Hilferufe adäquat auslösen können 
  10. Beseitigung von Stolperfallen und Anpassung des Wohnumfeldes 
  11. Schulungen des Pflegepersonals zur Sturzprophylaxe (Fallbesprechungen, Einbeziehung von anderen Berufsgruppen) 
  12. Beratung und Anleitung von Angehörigen und Berufsanfänger*innen
     

Fazit 

Sturzereignisse nehmen mit zunehmendem Alter zu, sind aber nicht gänzlich zu vermeiden. Der Schwerpunkt pflegerischer Intervention sollte darin bestehen, Mobilität zu fördern und Sturzfolgeschäden zu minimieren. Wichtig ist vor allem aus rechtlicher Sicht, dass Risiken identifiziert und entsprechende Maßnahmen, wie beispielsweise in den Punkten 1 bis 12 skizziert, geplant, dokumentiert und durchgeführt werden. 

 

Michael Thomsen ist seit 1998 Fachkrankenpfleger für Geriatrische Rehabilitation mit langjährigen und grundlegenden Erfahrungen und Kenntnissen im Bereich der Pflege von Menschen mit altersassoziierten Erkrankungen wie Schlaganfall und Demenz. Die Erfahrungen im direkten Kontakt mit Bewohnern und Angehörigen sowie die Sachzwänge der professionellen Pflege haben ihn empfänglich gemacht für kreative und pragmatische Lösungen. Seit 2010 ist er ausgebildeter Heimleiter, Dozent und Autor diverser Fachartikel rund um die Themen Pflege und Demenz. Als ausgewiesener Pflegeexperte mit Erfahrungen in der stationären Altenhilfe legt er besonderen Wert auf der wissenschaftsbasierten Organisation von pflegerischen Dienstleistungen im Sinne einer pragmatischen Verknüpfung von Theorie und Praxis.
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