Patientenbibliothek in der Charité trägt zum Heilungsprozess bei

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In Deutschland gibt es ungefähr 200 Patientenbibliotheken in den verschiedensten Kliniken. Die Europäische Künstlergilde für Medizin und Kultur hat soeben mit den Verantwortlichen dieser Bibliotheken eine Umfrage durchgeführt, die sich auf deren Einbindung in den Kliniken beziehen. Ergebnisse werden in Kürze erwartet. Welche wichtige Funktion Patientenbibliotheken im Klinikumfeld haben, dieser Frage ist unsere Autorin und Schreibtherapeutin Susanne Diehm nachgegangen. Sie führte ein Interview mit Gundula Wiedemann, die seit über 30 Jahren als Bibliothekarin in einer Patientenbibliothek aktiv ist.

Liebe Frau Wiedemann, Sie sind seit vier Jahren Leiterin der Patientenbibliothek am Campus Benjamin Franklin der Charité in Berlin und haben gerade die bundesweite Tagung der Patientenbibliotheken moderiert. Wie der Name schon sagt, sind diese Bibliotheken vor allem für die Patienten da; was sind denn – kurz umrissen – Ihre Aufgaben und die Ihrer Kolleginnen?

Die Aufgaben entsprechen denen einer kleinen öffentlichen Bibliothek; das Besondere ist, dass unsere Besucher sich in einer speziellen Lebenssituation befinden – einem Krankenhausaufenthalt – und dass wir zu den Patienten gehen auf die Stationen mit einem Bücherwagen und Lektüre anbieten. Außerdem organisieren wir auch Buchvorstellungen zu relevanten Themen für die Patienten. Wie z. B. für die Besucher aus der Tagesklinik für Schmerztherapie Bücher zum Umgang mit dem Thema Schmerz, z. B. Derra: Achtsamkeit und Schmerz: Stress, Schlafstörungen…wirksam lindern.

Was erleben Sie denn dort auf den Stationen?

Das ist sehr unterschiedlich; das Wesentliche ist die Begegnung mit den Patienten. Wir klopfen an jede Tür, wollen unser Angebot anbringen, aber wissen nicht, in welche Situation wir kommen; ob es gelegen ist, wie es dem Patienten gerade geht, ob er vielleicht kurz vor einer Operation steht, aber grundsätzlich wird unser Angebot immer mit sehr viel Wohlwollen und positiver Reaktion beachtet.

Wenn diese Situationen so unterschiedlich sind, Frau Wiedemann, woher wissen Sie denn dann, was Sie auf Ihren Bücherwagen packen können? Haben Sie eine Art Grundausstattung oder gehen Sie intuitiv vor?

Grundlage ist, dass wir den Bestand der Bibliothek inhaltlich sehr gut kennen und daher gut Bücher empfehlen können. Wir müssen also im aktiven Gespräch erfahren, was könnte das richtige Buch sein.

Wenn Sie mit den Patienten im Gespräch sind, da erfahren Sie bestimmt auch von ihren Nöten? Haben Sie auch eine Art seelsorgerische Funktion?

Ja, seelsorgerisch in einem weiten Sinne, weil unsere Gespräche über Literatur ganz oft dann bei einem Gespräch über eigene Probleme landen, da ist die Literatur eher so die Krücke dazu, dass man sich öffnen kann als Patient.  Die Krücke oder auch die Brücke, denn Literatur kann ja sehr viel bewirken.

Haben Sie auch eine kunsttherapeutische oder bibliotherapeutische Ausbildung?

Nein, ich habe keine Zusatzausbildung, aber lange Jahre Berufserfahrung. Ich stelle auch ausgewählte neue Medien in therapeutischen Bereichen vor mit dem Ziel der aktiveren Freizeitgestaltung nach dem Klinikaufenthalt.

Also bieten Sie auch den Übergang vom Krankenhaus wieder zurück in den Alltag?

Ja, die Buchvorstellungen finden in der Schmerztagesklinik statt und in der psychosomatischen Tagesklinik. Für diese Lesungen wähle ich also speziell Bücher aus, die helfen sollen, die Freizeit wieder aktiver zu gestalten. Aber auch Bücher zu Entspannungstechniken, Lebenshilfe und Biographien, hier z. B. A. Wendt: Du Miststück : meine Depression und ich – ein sehr ermutigendes, persönliches Buch.

Noch einmal zurück zum Bücherwagen: Sie besuchen den Patienten und empfehlen Literatur. Welche Genres werden denn da abgefragt, wissen die Patienten, was sie suchen und brauchen?

Entgegen aller Vorurteile wird immer noch viel gelesen, auch in der speziellen Situation im Krankenhaus. Wir können Patienten, die nicht darauf vorbereitet sind hier Zeit zum Lesen zu haben, auf die Idee bringen. Wir bieten direkt auf den Stationen unseren Service an, betreiben ganz aktiv Leseförderung.

Historische Romane oder Krimis gehen eigentlich immer- bringen Ablenkung und Beschäftigung mit anderen Themen… Literarische Trends außerhalb spiegeln sich aber auch hier wieder. Wir haben aber auch Sachbücher zu ganz allgemeinen Themen; es gibt Reiseliteratur; es gibt Hobby-Literatur, sei es der Garten, sei es das Kochen, weil es Sehnsuchts-Themen sind: Man kann vielleicht die Angst vor der Operation für kurze Zeit vergessen oder sich schon auf den nächsten Urlaub vorbereiten.

Das sieht man hier schon. Von Altersheilkunde bis Yoga gibt es ein sehr vielfältiges Spektrum; auch das Thema Sterben und Tod ist nicht ausgespart.

Ja, wir haben außerdem einen recht großen Sachbuchbestand, weil wir versuchen zu den Themen, die hier entsprechend der Klinikstationen anfallen können, Bücher vorrätig zu haben, sei es zur Gynäkologie, zum Schmerz, zur Naturmedizin o. ä. In unserem Bestand finden sich auch besonders Bücher, in denen Krankheitsschilderungen vorkommen in Romanform: Wie lebe ich z. B. nach einer Brustkrebserkrankung?

Dann sind Sie also der Meinung, dass die Patientenbibliothek eine wichtige Rolle spielen könnte im Heilungsprozess der Patienten?

Ganz bewusst habe ich die Patientenibliothek hier als ein Gegenambiente zu den Krankenhauszimmern gestaltet, in einem wohnlichen Charakter – hier soll eine Normalität vorgefunden werden, das finde ich wichtig. Zum Einen gibt es das Recht auf Informationen, dafür ist die Bibliothek da, und zum Anderen ist die Sterilität des Krankenzimmers aufgehoben, indem man sich hier zurückziehen kann.

Wie sieht das aus, manchmal stellt man sich eine Bibliothek nur mit Büchern ausgestattet vor, aber ich sehe hier ganz viele DVDs und andere elektronische Medien?

Das ist gut, dass wir darauf zu sprechen kommen, manchmal werden die Patientenbibliotheken in ihrem Angebot unterschätzt. Wir haben ein sehr breites Angebot: Neben Büchern aktuelle Zeitschriftentitel, viele DVDs, die Patienten bringen die eigenen Laptops mit und können dann individuell Filme anschauen; Hörbücher mit der speziellen Abhörtechnik, und seit kurzem auch ein Onleihe-Angebot: Das bedeutet, wir haben eBooks, ePapers und eAudios, die jederzeit über eine Plattform im Internet heruntergeladen werden können. Also alles sehr modern.

Welches Feedback geben Ihnen denn die Patienten zur Patientenbibliothek?

Ein sehr positives Feedback, selbst wenn die Bibliothek nicht genutzt wird, sie wird trotzdem wahrgenommen und das Angebot gelobt; und wenn die Bibliothek genutzt wird, geht es von vom Lob, dass die Patientenbibliothek einen sehr aktuellen und attraktiven Bestand hat, bis zur Aussage: „Die Bibliothek war meine Rettung, ich konnte mich – weil ich lange hier lag- in der Bibliothek zurückziehen und ein bisschen wieder ich selbst werden.“

Das liegt natürlich auch daran, was hier in der Bibliothek zu finden ist, die Auswahl der Medien, die wir für die Bibliothek kaufen, ist sehr wichtig, es sollte für jeden etwas dabei sein und die Anschaffungen sollten inhaltlich noch genauer  betrachtet werden als in einer anderen öffentlichen Bibliothek; z. B. Ratgeberliteratur zu den Themen Lebensfragen, Lebensführung, Psychologie, die wir immer gut empfehlen können und wo wir eine Vorauswahl treffen.

Sie haben auch speziell zum Thema Krebs Ratgeber? Und vielleicht sogar unser Übungsbuch „Mit Schreiben zu neuer Lebenskraft“?

Natürlich haben wir das Buch, es ist zurzeit ausgeliehen! So soll es auch sein. Wir haben etliche Bücher zum Thema Krebs, z. B. Wie ernähre ich mich anders bei Krebs, Homöopathie, auch das Buch von Dr. Michaelsen oder Professor Sehouli; beide haben auch schon eine Buchvorstellung in der Patientenbibliothek gemacht. Wir haben auch Kinderbücher, wie erkläre ich meinem Kind, dass ich schwer krank bin? Oder auch Krebs und Tod, in kindgerechter Form erklärt, sparen wir nicht aus.

Liebe Frau Wiedemann, gemeinsam mit Ihnen führt die europäische Künstlergilde für Medizin und Kultur eine Umfrage durch.  Was kann eine Unterstützung der europäischen Künstlergilde für Kultur und Medizin im besten Falle für die Patientenbibliotheken bewirken?

Ein ganz großer Begriff: die Lobby ist manchmal etwas zu gering. Patientenbibliotheken gehören in das ganzheitliche Therapie-Konzept und sind wohl doch in manchen Kliniken ein bisschen am Rand; sie müssen eingebunden sein in die Struktur und die Bibliothekare müssen Informationen erhalten: Wo gibt es Veränderung auf den Stationen, was die Therapiekonzepte angeht, auch inhaltlich-thematischer Art. Da ist nach oben noch Luft und die Unterschiede, bedingt durch die Größe der Kliniken, sind sehr groß.

Also gehen Sie d’accord mit Professor Sehouli, der ja auch die Gesundheit in das Krankenhaus bringen möchte?

Ja, natürlich, im alten China z. B. wurde der Arzt dafür bezahlt, dass er gesund gehalten und nicht die Krankheit behandelt hat. Ich denke, eine Art normaler Alltag in dieser besonderen Kliniksituation entsteht, wenn man sich hier in der Bibliothek aufhalten kann, wo auch noch Veranstaltungen stattfinden manchmal. Sie sind zwar Patient, aber Sie bleiben trotzdem der Mensch mit den gleichen Bedürfnissen, die Sie in Ihrem anderen Alltag auch haben und sind hier nicht einer Hospitalisierung ausgeliefert.

Was wünschen Sie sich und was ist Ihre Vision?

Ich wünsche mir für alle Bibliotheken die gleiche Anerkennung, wie es an der Charité möglich ist; zentrale Räume, sodass die Bibliotheken auch sichtbar sind; ausgebildetes Personal – und ja, weiterhin moderne Bibliothekskonzepte.

Gibt es auch eine Einbindung des medizinischen Personals oder der Therapieform der Klinik?

Kontakt zu den Pflegenden ergibt sich, wenn sie das Angebot der Bibliothek in Anspruch nehmen, und wenn wir mit dem Bücherwagen auf den Stationen sind. Ich würde mir natürlich wünschen, dass das Personal die Bibliothek noch mehr empfehlen würde, nach dem Motto: “ Gehen Sie doch mal in die Bibliothek, Sie können jetzt wieder aufstehen, wir haben dort einen sehr schönen Raum mit Lese-Ecken¸ nutzen Sie, was die Bibliothek Ihnen bietet!“ Das wäre noch einmal mehr eine gute Chance, aktuelle Therapien der Patienten positiv mit Lesestoff zu begleiten bzw. zu unterfüttern.

Wie könnten Pflegende noch von der Patientenbibliothek profitieren?

Ich arbeite schon sehr lange in dem Bereich, habe mein Praktikum nach dem Studium auch in einer Patientenbibliothek gemacht und der Leiter dieser Patientenbibliothek hat zu mir gesagt: „Wissen Sie, ein Patient, der ein spannendes Buch liest, der klingelt nicht!“

Ist das ein Argument für das Lesen, wunderbar. Das bedeutet, dass Bücher nicht nur beschäftigen, sondern auch erfüllen, Schmerz lindern, und zu einem zufriedenen Gefühl führen?

Ja, manchmal kommt mir zu oft das Wort ablenken vor, aber auch eine gute Ablenkung kann den Heilungsprozess voranbringen.

Das erleben wir auch bei unseren Schreibseminaren an der Charité und an anderen Universitätskliniken: Eine Funktion dieser inspirierenden Anregungen ist nämlich auch, dass sich die Teilnehmenden in den Kreativitätsprozess begeben und mal zwei Stunden nicht an die Krankheit denken, sondern in den Schreibflow kommen, lachen, sich mitteilen und ihre eigene Schaffenskraft erleben.

Frau Wiedemann, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!

ist Autorin und Bloggerin, Master of Creative and Biographical Writing, Kunst- und Kreativitätstherapeutin. Sie ist auf Initiative von Prof. Dr. Jalid Sehouli mit Schreibprogrammen zur Gesundheit an der Frauenklinik der Charité aktiv. Ihr Buch "Mit Schreiben zu neuer Lebenskraft" ist beim Kösel-Verlag erschienen. Darüber hinaus berät sie Kliniken, Rehas und andere Organisationen, wie sie das Schreiben als wirksames Instrument zur Gesundheitsförderung einsetzen können. An der Psychiatrie der Charité erhält sie die Förderung des Gesundheitsfonds für ein Konzept zur Entlastung und Stärkung von Mitarbeitern in der Pflege. In der Vorstandsarbeit der Europäischen Künstlergilde für Medizin und Kultur setzt sie sich für eine ganzheitliche Medizin ein.
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