„Glück ist die Übereinstimmung eines Charakters mit seinem Schicksal“ (Ernst v. Feuchtersleben) – dies ist einer von vielen Versuchen, Glück zu definieren. Um die Schwierigkeit dieses Unterfangens und die möglichen Vernetzungen von Glück, Literatur und Medizin geht es in der zweiten Folge der Ringvorlesung „Blut und Tinte“, einer Veranstaltungsreihe der Charité – Universitätsmedizin Berlin und der Universität Konstanz in Kooperation mit der Europäischen Künstlergilde für Medizin und Kultur und dem Einstein-Zentrum Chronoi, moderiert von Dr. Adak Pirmorady und Dr. Jens Stupin.
Prof. Dr. Malek Bajboujs (Charité-Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin, Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie) einführender Vortrag ist entsprechend vielschichtig aufgebaut: Von Platon über Epikur, Statistiken über den Zusammenhang von finanzieller Situation und Wohlbefinden oder den von Zufriedenheit und neuro-wissenschaftlichem System bis hin zur Selbstwirksamkeit nach A. Bandura erstreckt sich die Palette der möglichen Erklärungen eines Gefühls, das nur schwer fassbar scheint.
Ist ein Mensch „nur dann glücklich, wenn alle drei Seelenteile (Vernunft, Willen, Begehren) im Gleichgewicht sind“ (Platon)? Erlangt er Seelenruhe, „wenn er den Tod nicht fürchtet, Elementarbedürfnissen den Vorzug gibt, Wünsche als optional ansieht, Bedürfnisaufschub betreiben kann und im Augenblick lebt“ (Epikur)?
„Blut und Tinte“ untersucht: Ist Glück wichtig für die Gesundheit?
Ein Zusammenhang zwischen Bruttosozialeinkommen und Wohlbefinden jedenfalls ist festzustellen: je höher das Einkommen, desto größer das Wohlbefinden; diese Steigerung lässt sich aber nicht bis ins Unendliche fortführen. Der World Happiness Report für 2019 bestätigt, dass finanzielle Sicherheit ein wichtiges Element für ein als glücklich empfundenes Leben ist, allerdings nicht das alleinige. Weniger grübeln („kurz mal nicht nachgedacht – ZACK – glücklich“) einerseits und kleine Portionen Wohlbefinden, oft zugelassen, erhöhen die Wahrscheinlichkeit der allgemeinen Zufriedenheit andererseits. Auch geringe Dosen Depressivität haben eine wichtige Funktion, da sie ein Innehalten, eine Verlangsamung bewirken und so dazu beitragen können, ungesunden Stress abzubauen.
Wohlbefinden und Zufriedenheit beeinflussen das neuro-wissenschaftliche System nachweislich positiv: Kreislauferkrankungen, Schlaganfälle und Arteriosklerose treten weniger häufig auf.
Prof. Bajboujs Vortrag durchziehen Synonyme des Wortes „Glück“ und weisen damit auf eine Interpretation, die sich im Verlauf der folgenden Diskussion weiter herauskristallisieren wird.
Moritz Rinke bei „Blut und Tinte“
Der Dramatiker und Romanautor Moritz Rinke, vorgestellt von Dr. Jens Stupin, einem der Moderatoren, nähert sich in seinem Beitrag Vom Glück und vom Glück, Literatur in der Medizin zu nutzen einer Definition vom künstlerischen Standpunkt aus und stellt zunächst fest: es ist einfacher, einen Roman über Unglück zu schreiben – und es gibt keine ernsthaften Romane über Glück. „Glück ist der natürliche Feind des Dramas.“ In der Literatur scheint also alles außer Glück zu mehr Kreativität anzuregen.
Glück wirkt wie etwas Flüchtiges, kaum zu fassendes; in unserem von sozialen Netzwerken geprägten Umgang miteinander werden Glückserlebnisse oft und rasch gepostet, um genauso schnell wieder vergessen zu werden.
Kann Literatur die Medizin unterstützen?
Und ist Glück eigentlich im Kontext eines Krankenhauses vorstellbar? Wie könnte trotz schwerer Diagnose Glück entstehen? Rinke zitiert hierzu den zeitgenössischen Philosophen Wilhelm Schmidt: es ist „das Widerspiel von Glück und Schmerzen. Schmerzen und Unglücklichsein ganz vermeiden zu wollen, bringt einen um die Kontrasterfahrung, dass Glück erst fühlbar macht.“
Moritz Rinke war auch Juror beim Literaturwettbewerb der Stiftung Eierstockkrebs und hat in diesem Zusammenhang selbstverfasste Texte von Frauen kennengelernt, die diesen bei der Bewältigung ihrer Krankheit sehr geholfen haben. Es stellt sich die Frage, ob Sprache eine Form der Überlebenshilfe sein kann. Hat geistige Auseinandersetzung neurologische und psychologische Folgen für die Heilung und was kann die Sinnlichkeit, Bildhaftigkeit und Neuschöpfung von Sprache bewirken? Welche Rolle spielen dabei Poetry- oder Schreibtherapie und Bibliotheraphie? Kann und muss für die Wirksamkeit dieser Therapien ein wissenschaftlicher Nachweis erbracht werden? Prof. Bajbouj meint dazu, Glück und Zufriedenheit werde zu vielfältig und zu verschieden empfunden, als dass es direkt messbar wäre.
Zur Rolle der Schreibtherapien verweist Dr. Adak Pirmorady (Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, M.A. Psychoanalytische Kulturwissenschaften; Medizinische Klinik m.S. Psychosomatik, Campus Benjamin Franklin, Charité – Universitätsmedizin Berlin) auf die ermutigenden Ergebnisse der seit 2017 an der Charité durchgeführten Schreibseminare für an Krebs erkrankte Frauen.
Für sie steht außer Zweifel, dass die Pychosomatik für jeden medizinischen Fachbereich verpflichtend sein sollte und das geschriebene Wort Einfluss auf neuronale Netzwerke hat; der kreative Umgang mit Krankheit kann somit einen positiven Verlauf bewirken.
Auch Rinke schließt sich an mit der Feststellung, dass narrative Medizin eine sinnvolle Ergänzung evidenzbasierter Medizin sein könnte.
„Blut und Tinte“ diskutiert die Rolle von Social Media
In der anschließenden Diskussion unter der Leitung von Dr. Stupin und Dr. Adak Pirmorady, in die viele Zuhörerfragen einfließen, wird noch einmal bekräftigt, dass Glück als Gefühl erst im Kontrast zu anderen Gefühlen entsteht und Flexibilität und Offenheit sowohl im Alltag als auch Offenheit für neue Ziele im Leben wichtige Voraussetzungen dafür sind. Prof. Bajbouj betont neben Offenheit und Aufnahmebereitschaft auch die Erwartungshaltung und Zielsetzung des Einzelnen; das Zusammenspiel zwischen Innen und Außen sei wichtig.
Social Media bleibt ein weiteres Thema; Rinke sieht es als problematisch an, dass Glück in einer Gesellschaft, die an Selbstoptimierung orientiert ist, fast zwanghaft erreicht werden muss und gleichzeitig die ständige Vorspiegelung von strahlendem Glück, oft retuschiert (wie z. B. bei Nutzung von Instagram), auf Dauer frustriert und letztendlich unglücklich macht.
„Blut und Tinte“ fragt: „Glücklich“ trotz Corona?
Auch die momentane Corona-Pandemie wirft Fragen auf: Wie kann man glücklich sein, trotz der massiven Beschränkungen? Rinke fordert, während der Pandemie nicht in eine Opferrolle zu verfallen; gerade Künstler hätten trotz der Einschränkungen viele Möglichkeiten, die Situation kreativ zu gestalten (zum Beispiel könnten im Pergamon-Museum Lesungen für Schüler stattfinden).
Bajbouj ergänzt, dass auch die Pandemie positive Seiten habe. Auf die Frage, ob Glück sich abnutze, antwortet er mit: „Ja“, das momentane, auf Belohnung basierende Glück nutze sich ab, anders als die langandauernde Bereitschaft, positive Momente erleben zu wollen. Glück sei eher selten und ein kurzes, subjektives Gefühl im Vergleich zu einer das Leben durchziehenden positiven Grundhaltung, die Zufriedenheit und Wohlbefinden entstehen lassen könne.
„Blut und Tinte“ stellt fest: Soziale Kontakte auch in Pflegesituationen wichtig
Bei seiner Arbeit mit Geflüchteten hat er zudem überraschenderweise festgestellt, dass diese auch während der Flucht – eine alles andere als glückliche Situation – positive Gefühle entwickeln; sie werden zumeist aus den als beglückend empfundenen Erinnerungen an die ehemalige Heimat und die dort vorhandenen, funktionierenden sozialen Kontakte generiert. Glückgefühle entstehen also oft dort, wo das soziale Gefüge intakt ist, Menschen miteinander kommunizieren.
Dies ist ein sicherlich wichtiger Aspekt, der z. B. in Pflegesituationen, egal ob zuhause oder in Einrichtungen, möglichst berücksichtigt werden sollte. Gerade in Zeiten von Pandemie-Einschränkungen können soziale Kontakte eine bereichernde, wenn nicht lebenserhaltende Funktion haben. Schreibgruppen zum Beispiel per Videokonferenz mit Zoom bieten Isolierten eine wunderbare Möglichkeit, in Tiefe und doch Leichtigkeit Kontakt und Solidarität zu erleben. Pflegende, aber auch Ärzte und Therapeuten können damit ihr Repertoire sinnstiftend ergänzen und eine innovative Art der Kommunikation initiieren.
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