Bei Demenz: Märchen einsetzen im Pflegealltag

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Unsere Bevölkerung wird immer älter, und die Zahl der Demenzkranken nimmt beständig zu. In Deutschland leben gegenwärtig fast 1,6 Millionen Demenzkranke; zwei Drittel von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Demenz ist die häufigste Ursache für die Einweisung in eine Pflegeeinrichtung. Derzeit werden in Deutschland rund 500.000 Menschen mit diesem Krankheitsbild in Pflegeeinrichtungen betreut. Jahr für Jahr treten etwa 300.000 Neuerkrankungen auf. Sofern in Prävention und Therapie kein Durchbruch gelingt, ist abzusehen, dass sich die Krankenzahl bis zum Jahr 2050 auf rund 3 Millionen erhöhen wird.

Schutz vor Alzheimer?

„Viel lesen und schreiben schützt vor Alzheimer“ so titelte die Ärztezeitung. „Wer rastet, der rostet – das gilt auch fürs Gehirn. Den „Rost“ bilden hier allerdings Proteinklumpen, die Hirnzellen zerstören. Das lässt sich aber offenbar verhindern – wenn man zeitlebens geistig aktiv ist“. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass wir uns vor Alzheimer schützen können, wenn wir auch schon in jungen Jahren viel lesen und schreiben?  „In einer Meta-Studie unter der Leitung von Professor Michael Valenzuela von der University of Sydney konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass sich kognitives Training positiv auf die Gesundheit unseres wichtigsten Organs auswirkt und signifikante Effekte bei demenzgefährdeten Patienten zeigt“ so heißt es im Newsletter von  Neuronation vom 2.4.2017. Dieses Unternehmen hat in Kooperation mit Wissenschaftsinstitutionen ein eigenes Trainingsprogramm entwickelt, das präventiv geistig fit halten soll.

Empathie koppeln mit biografischem und kreativem Schreiben

Doch was, wenn die Demenz schon eingetreten ist? Frau Professor Dr. Ingrid Kollak von der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin sagt dazu: „Standardtests beschreiben Demenzstadien von leichten kognitiven Beeinträchtigungen bis hin zu schweren Verlusten von Alltagskompetenzen. Kognitive und sinnliche Fähigkeiten nehmen in unterschiedlichem Maße ab, und sinnliches Erleben und Gefühle treten bei Menschen mit Demenz in den Vordergrund. Wenn Betroffene trotzdem schon in frühen Stadien der Demenz verstummen, kann das als eine Reaktion auf eine abweisende Umwelt verstanden werden. Eine empathische Umwelt fördert dagegen die Sinneseindrücke und Gefühle durch psychosoziale Interventionen.  Zu diesen zählt das kreative und biografische Schreiben.“

Systemisch, kreativ und empathisch – so soll Therapie bei Demenz sein

Bis vor einigen Jahren wurden die Symptome der Demenz vorrangig mit medikamentösen Behandlungsmaßnahmen gelindert – heute gibt es eine ärztliche Leitlinie, die will, dass psychotherapeutische und psychosoziale Maßnahmen an erster Stelle stehen. Insbesondere die systemische Therapie, die Familienmitglieder einbezieht, kann helfen, den letzten Lebensabschnitt mit Kraft und Zuversicht zu bewältigen.  Das Buch Systemisches Arbeiten mit älteren Menschen vom Carl-Auer-Verlag zeigt Konzepte und Praxisbeispiele. Psychosoziale Interventionen können kreative Therapien sein, sei es Musik, Märchen, Schreibspiele, Collagen, Tanz oder Theater. Allerdings muss der Erinnerungs- und Erzählfluss durch Methoden und Techniken des kreativen Schreibens erst in Gang gebracht werden; das ist aber einfach zum Beispiel durch das Fragen stellen nach nahe liegenden Themen: „Was hat Menschen stolz oder glücklich gemacht, woran erinnern sie sich gern?“ Hier finden Sie einige Übungen von Sudijumi zum Biografischen und Gesundheitsfördernden kreativen Schreiben. Auch das Wörterbuch des Kreativen Schreibens von Lutz von Werder & Friends, erschienen beim Schibri-Verlag, enthält viele Stichworte, Anregungen und Hintergrund-Informationen.

Schreiben und Erzählen mit biografischem Bezug stimuliert

Auch wenn kognitive Fähigkeiten abnehmen: Was Menschen mit Demenz auf einer sinnlichen Ebene anspricht, aktiviert. Allerdings nur, solange Reaktionen und Antworten des Pflegepersonals wirklich von wertschätzender Haltung getragen sind. Prof. Dr. Ingrid Kollak, Alice Salomon Hochschule Berlin: „Aktuelle Untersuchungen belegen die Wirkungen psychosozialer Interventionen, wie die Märchen+ Demenz+Studie (Kollak et al. 2016)* oder die Analyse autobiografischer Texte von Patient/innen im frühen Stadium der Demenz (Zimmermann 2011**). Schreiben und Erzählen mit biografischem Bezug stimuliert und aktiviert Menschen mit Demenz – ganz besonders dann, wenn ihre Assoziationen und (Re)Aktionen wertgeschätzt werden. Eine solche wertschätzende Haltung geht davon aus, dass alle Äußerungen für den sprechenden Menschen Sinn haben.“

Künstlerische Angebote für Menschen mit Demenz

„Wenn Demenz- und Alzheimerpatienten Märchenerzählungen zuhören, können sie sich für einen Moment entspannen“, so ist es in der Ärztezeitung in einem Artikel aus dem Mai 2015 zu lesen. „Wir vermuten, dass das Märchenerzählen das herausfordernde Verhalten der Betroffenen mildern und dämpfen kann“, so sagt Sozialwissenschaftlerin und Professorin Ingrid Kollak. Viele der Patienten geben Töne von sich, seien einmal aggressiv und dann wieder lethargisch. Das könne den Alltag in den Pflegeheimen lahm legen: „Für viele Pflegende ist das ein Problem, denn sie wissen im Grunde nicht, wie sie damit umgehen können“, sagt Kollak. „Das Märchenerzählen wirkt über die Gefühle, die das strukturierte Erzählen auslöst“, mutmaßt sie. Über ihre Studie zum Märchenerzählen und anderen ist ein Buch erschienen*. Dieses Buch zeigt Mitarbeitern der Pflege oder Betreuungspersonen sechs kreative und künstlerische Angebote für Menschen mit Demenz und bietet konkrete Anleitung für die praktische Umsetzung. Es zeigt, wie man Betroffenen trotz ihrer eingeschränkten kognitiven Leistungen auf einfühlsame Weise einen Zugang zu ihrer Umgebung ermöglichen kann, so der wissenschaftliche Springer-Verlag.

Märchen im Alltag von Pflegeeinrichtungen einsetzen

Erste Ansätze dazu haben schon Einzug in den Pflegealltag innovativer Pflegeeinrichtungen gefunden. Die Studie von Professor Dr. Ingrid Kollak ging in Berlin in das Modellprojekt „Märchen und Demenz“ in den Pflegeeinrichtungen der Katharinenhof GmbH und der Agaplesion Bethanien Diakonie gGmbH über. Dort finden dazu wöchentliche Märchenerzählungen vor Kleingruppen Demenzkranker in verschiedenen Krankheitsstadien statt. In der Studie von Prof. Dr. Kollak konnte belegt werden, wie positiv entsprechende Interventionen auf Menschen mit Demenz wirken. Besondere Wirkfaktoren ließen sich bei der Linderung herausfordernder Verhaltensweisen der Demenzpatienten finden. Märchenerzählungen erhöhen die Lebensqualität und Teilhabe! „Märchenland“, das Deutsche Zentrum für Märchenkultur, ist die erste Initiative, die sich der Aufgabe stellt mit Märchen kreativ-therapeutisch begleiten und in Kooperation mit Pflegeinrichtungen und Wissenschaft aktiv zur Verbreitung dieser wirkungsvollen Intervention beizutragen. Die Initiative wird von namhaften Personen des öffentlichen Lebens unterstützt.

Unterstützung und Ausbildung von Pflegenden

Doch nicht nur die die Dermenzkranken profitieren von solch neuen Wegen. Auch das Pflegepersonal, das tagtäglich neuen Herausforderungen ausgesetzt ist und mit Umsicht und Verständnis darauf reagiert, kann mittels gezielter Ausbildung Entlastung verschafft werden.

So gibt es zum Beispiel eine Ausbildung zum professionellen Demenz-Erzähler mit Hochschulzertifikat im Deutschen Zentrum für Märchenkultur in Kooperation mit der Alice-Salomon-Hochschule. Diese Weiterbildung umfasst sowohl die theoretischen Grundlagen der kreativ-therapeutischen Intervention als auch die praktische Umsetzung in den Pflegealltag. Sie richtet sich an Pflegefachpersonen aus stationären, ambulanten und häuslichen Versorgungsbereichen, alltagsbegleiter / -innen sowie Märchenerzähler / -innen.

*Kollak I (Hrsg., 2016): Menschen mit Demenz durch Kunst und Kreativität aktivieren. Berlin Heidelberg (Springer)

**Zimmermann M (2011): Dementia in life writing: Our health care system in the words of the sufferer. Neurological Sciences, Vol 32(6), Dec, 2011. pp. 1233-1238.

ist Autorin und Bloggerin, Master of Creative and Biographical Writing, Kunst- und Kreativitätstherapeutin. Sie ist auf Initiative von Prof. Dr. Jalid Sehouli mit Schreibprogrammen zur Gesundheit an der Frauenklinik der Charité aktiv. Ihr Buch "Mit Schreiben zu neuer Lebenskraft" ist beim Kösel-Verlag erschienen. Darüber hinaus berät sie Kliniken, Rehas und andere Organisationen, wie sie das Schreiben als wirksames Instrument zur Gesundheitsförderung einsetzen können. An der Psychiatrie der Charité erhält sie die Förderung des Gesundheitsfonds für ein Konzept zur Entlastung und Stärkung von Mitarbeitern in der Pflege. In der Vorstandsarbeit der Europäischen Künstlergilde für Medizin und Kultur setzt sie sich für eine ganzheitliche Medizin ein.
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