Wir haben Diplom-Soziologin und Schreibtherapeutin Jutta Michaud befragt, die u.a. an der Charité Berlin schreibtherapeutische Seminare leitet:
Welche seelischen Lasten haben Angehörige zu tragen, wenn ein geliebter Mensch zum Beispiel an chronischen Krankheiten wie Krebs, Multipler Sklerose, Demenz erkrankt?
„Ängste, Sorgen, Hoffnungen, Sprachlosigkeit, Wut: Die Reaktionen der Angehörigen sind ganz ähnlich wie die der Betroffenen. Doch während man von Erkrankten solche Gefühle, vielleicht sogar offene Ausbrüche erwartet, wird selten gefragt, wie die Angehörigen zurechtkommen. Sie müssen tapfer sein – oder sie erwarten diese Tapferkeit von sich selbst. Angehörige verbieten sich oft ihre Gefühle und Erschöpfungszustände oder schämen sich gar dafür. Sie möchten stark sein, Hoffnung spenden, den geliebten Menschen unterstützen und drücken ihre eigenen Befindlichkeiten einfach weg. Dabei kommt die eigene Gesundheit schnell zu kurz.“
Wenn Angehörige pflegen, landen sie manchmal im Burnout. Erst sind es nur einfache Hilfestellungen, aber unversehens ist die Beanspruchung einer typischen Pflegetätigkeit da. Für den pflegenden Angehörigen entsteht häufig eine Mehrfachbelastung, denn er muss neben der Pflege noch seinen eigenen Berufs- und Familienalltag bewältigen. Da kommt es oft zu wenig Schlaf und fehlender Erholung. Das zermürbt, und für sportlichen oder sozialen Ausgleich bleibt keine Zeit.
In der Schreibgruppe das Schweigen über die Diagnose aufbrechen
Schwieriger noch wird es, wenn der geliebte Partner sich entzieht, schweigt, weil auch er oder sie nicht über die Gefühle sprechen kann, die mit seiner oder ihrer Diagnose verbunden sind. Was tun, wenn in einer Beziehung um die Diagnose herumgeschlichen wird? Wohin mit den Ängsten, wenn sie gegenüber Verwandten und Freunden nicht einmal erwähnt werden darf?
Jutta Michaud dazu: „In einer Angehörigen-Gruppe gibt es Raum für komplizierte Gefühle. Um Loyalitäten nicht zu verletzen, vermitteln wir als Sudijumi Methoden und Techniken des projektiven Schreibens: Dabei muss sich niemand outen und seine oder widersprüchliche Empfindungen als eigene darstellen, sondern die Geschichte wird quasi anonymisiert oder literarisiert. Schreibend entsteht in der Gruppe eine Gemeinschaft, die trägt und aus der Vereinsamung herausführt. Schreiben entlastet, beseitigt Blockaden und schafft Raum für Leben und Lebendigkeit. Schreibend kann man sich täglich selbst unterstützen und ein Stück Leichtigkeit zurück ins Leben holen. Last but not least lehren wir für zu Hause Methoden des Selbstcoachings mit einer speziellen Form des Journalings, die weit über das normale Tagebuch-Schreiben hinausgehen.“
Online-Beratung für pflegende Angehörige
Es gibt auch online-Beratung für pflegende Angehörige. Das psychologische Beratungsangebot pflegen-und-leben.de richtet sich an alle gesetzlich krankenversicherten pflegenden Angehörige, aber auch an Freunde, Nachbarn und Bekannte, die Menschen in ihrer häuslichen Umgebung pflegen oder regelmäßig versorgen. Beruflich Pflegende wie Pflegekräfte etc. können nicht beraten werden. Die vier Pflegekassen Barmer GEK Pflegekasse, TK-Pflegeversicherung, DAK-Gesundheit-Pflegekasse und die hkk-Pflegeversicherung ermöglichen auf der Grundlage des § 45 SGB XI allen gesetzlich versicherten pflegenden Angehörigen die Nutzung dieser persönlichen Online-Beratung.
Privat versicherte pflegende Angehörige können sich zum Beispiel an eine telefonische Pflegeberatungsstelle wenden oder sich bei der privaten Pflegeberatung COMPASS nach psychologischen Beratungsstellen vor Ort erkundigen. In Berlin bietet Sudijumi zu kleinen Preisen Schreibkurse für Angehörige, die in Einzelberatung individualisiert und weitergeführt werden kann.
Online-Beratung
In „Geschichten über Geschichten: Kreatives Schreiben und narrative Ansätze in der systemischen Onlineberatung“ beschreibt Diplom-Psychologe Mathias Clasen, wie sinnvoll auch eine Schreibberatung online sein kann und wie die Macht der Worte wirkt:
“ Wo vorher Sprachlosigkeit war, finden die Angehörigen im selbstreflexiven Prozess des Schreibens Wörter, um Emotionen ausdrücken zu können. Gezielte Schreibaufgaben ermöglichen es den Angehörigen, ihre Gedanken und Gefühle aus einer inneren Distanz heraus zu betrachten, was ihnen dabei hilft, sich von alten Konstrukten und Geschichten zu lösen und offen für neue Erfahrungen, neue Erzähllinien zu sein.“
Zu aller erst werden die Angehörigen gebeten, diese Fragen zu beantworten:
- „Beschreiben Sie mir bitte zunächst Ihren Alltag: Wie sieht Ihr Alltag aus, wie leben Sie? Wer gehört dazu? Wie würden Sie die Beziehung zu Ihrer Mutter beschreiben? Wie gestalten Sie Ihren Tag? Bekommen Sie in irgendeiner Form von Freunden oder Familie Unterstützung? Gibt es Zeiten, in denen Sie auch andere Dinge tun können? Was tun Sie in der »pflegefreien« Zeit?
- Im Folgenden möchte ich gern mehr darüber erfahren, was Sie derzeit belastet: Wenn es mehrere Dinge gibt, die Sie belasten: Was möchten Sie als Erstes angehen?
- Außerdem wüsste ich gern von Ihnen: Welche Gedanken haben Sie sich schon gemacht, was Sie mit dieser Beratung bei mir erreichen wollen? Und angenommen, die Beratung würde sehr gut verlaufen, woran würden Sie merken, dass sich etwas verändert hat?“
Danach geht der Psychologe schreibend in den Dialog. Er arbeitet ressourcen-orientiert und systemisch, fordert zum Erzählen der Geschichte auf, schreibt der Angehörigen Briefe und gibt ihr darin Aufgaben und Anleitungen zum Kreativen Schreiben. Eine davon ist, zum Ende der Beratung hin, das Schreiben eines „Regentagbriefes“ an sich selbst.
Der Regentagbrief
„Schreiben Sie aus Ihrer jetzigen Sicht einen aufbauenden und unterstützenden Brief an sich selbst. Beginnen Sie den Brief ruhig damit, dass Sie sich selbst ansprechen, zum Beispiel könnte ein Brief folgendermaßen beginnen: ‚Liebe Britta, in der Beratung ist mir bewusst geworden, dass ich nicht rund um die Uhr für meine Mutter da sein kann und muss – ich weiß jetzt, dass, wenn etwas passiert, sie in die Klinik gehen kann und dort gut versorgt wird … Auch habe ich die Achtsamkeitsmeditation für mich entdeckt und über mich selbst erfahren, dass es wichtig ist, auf mich selbst aufzupassen und den Blick für die schönen kleinen Dinge im Alltag nicht zu verlieren. Um dies zu tun, ist es gut, wenn ich Folgendes nicht vergesse …‚
Der Brief ist wie eine emotionale Versicherung für die dunkleren Tage und sollte eine Liste der Dinge , die Klienten benötigen, um sich zu entspannen und wohlzufühlen, enthalten. Dazu gehört beispielsweise eine Liste vertrauenswürdiger Unterstützer und eine Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse der letzten Wochen. Clasen schlägt ferner vor zu notieren, was in dieser Zeit besonders hilfreich war und für die Zukunft erinnert werden sollte.
„Denken Sie hierbei auch an die neue Selbstsorgeregel, die ich Ihnen vorschlug: »Es ist in Ordnung, dass ich jetzt an mich denke. Ich kann es genießen und es tut mir gut. Und meiner Mutter tut es auch gut, denn ich komme gestärkt und entspannt zu ihr zurück« – diese kann Ihnen helfen, mehr »bei sich«zu sein. … Bewahren Sie den Brief an einem Ort auf, wo Sie ihn leicht finden und bei Bedarf hervorholen können…“ so Diplom-Psychologe Mathias Clasen.
Ob als online-Beratung, in der Schreibgruppe oder im Einzelcoaching: Entlastung und neuen Mut zum Schreiben finden ist für Pflegende sicherlich sinnvoll.